Der dunkle Kuss der Sterne
schlimmsten.
Und den grauhaarigen Mann, der mir mit kühler Sachlichkeit half, immer einen Weg zu finden, so aussichtslos die Lage auch schien.
»Schwester Zahl«, flüsterte ich in den Wind. »Bruder Erinnerung. Bruder Wegesucher …«
Und Schwester Glanz. Doch sie konnte Manoa nicht sehen.
Was hatte Schwester Glanz gesagt, bevor sie mich in die Tiefe stieß? »Verzeiht mir.« Sie hatte also zu den anderen drei gesprochen, nicht zu mir.
Ich drehte mich langsam um. »Aber sie … sie kann nicht selbst meine Gabe sein! Wenn diese Märchen wirklich wahr wären, dann … wäre sie gar kein Teil von mir, sondern wirklich ein eigenes Wesen.« So wie Manoa es mir auch erzählt hat. »Aber sie wäre ein Geist in einer anderen Wirklichkeit. Kein Mädchen, das mich niederschlagen kann!«
»Vielleicht bist in ihrer Wirklichkeit du der Geist«, erwiderte Amad. »Es kommt immer darauf an, auf welcher Seite einer Mauer man steht.«
Er hatte wieder diesen blinden Blick, der mir heute mehr Angst denn je machte. Während ich versuchte, einfach nur zu atmen, fanden sich Puzzlestücke zum Bild: Tian, der mich im Traum ebenso ansah wie Amad jetzt – als wäre da jemand anderes, hinter mir. Und seine zärtlichen Worte: »Folge mir, mein Stern.« Es war keine Botschaft an mich gewesen. Tian hatte nicht mich gemeint, sondern die andere gesehen . Und sie war es, die er geliebt hat. Von Anfang an. Wenn ich noch Tränen gehabt hätte, ich hätte geweint. Ich war nicht nur einmal, sondern doppelt verraten und verlassen worden. Und die Verbundenheit, die ich spürte – war die zu meiner verlorenen Gabe. An dieser unsichtbaren Nabelschnur entlang hatten meine drei anderen Geschwister mich geführt. Erst jetzt fiel mir auf, was die ganze Zeit offensichtlich gewesen war: Amad hatte nicht mich geführt, unauffällig hatte er sich an mir orientiert, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er mich vom Weg abbringen wollte.
Es kostete mich allen Mut, zu Amad zurückzugehen. Mehr denn je spürte ich die Gefahr und Kälte, die von ihm ausging, aber jetzt wusste ich, dass es meine Geschwister waren, die vor ihm zurückwichen. Amads Fokus änderte sich mit einem Wimpernschlag. Vielleicht war es das erste Mal, dass wir einander wirklich sahen. Aber wen sieht er denn? , dachte ich verzagt. Wer bin ich überhaupt, wenn meine Gaben gar kein Teil von mir sind? Und wer ist Amad, wenn meine Geschwister ihn so sehr fürchten, dass sie in seiner Nähe verstummen?
Amads Hemd war getrocknet, der Wind ließ die Fetzen seines Ärmels flattern. Eine blutige Spur zeichnete sich an seinem Unterarm ab. Ritzungen von Haizähnen, die ihn nur gestreift und sich weiter unten an seinem Lederband verfangen hatten. Es war fast ganz durchtrennt. Amad wehrte mich nicht ab, als ich ihn am Handgelenk fasste und das Band abriss. Wie ich vermutet hatte, war darunter eine Tätowierung verborgen. Ein Zeichen wie ein Siegel, rund, mit verschlungenen Symbolen wie Blütenblätter.
»Das Blau der Traumdeuter«, sagte ich heiser. »Du gehörst zu ihnen. Du siehst durch die Seelenhäute der Welt, deshalb hat die Mégana dich mit mir auf die Reise geschickt. Du belauschst meine anderen Gaben, die mich zu Schwester Glanz führen. Sie haben mich das Fresko meiner Ahnin finden lassen, weil sie auch blonde Haare hatte – wie Schwester Glanz. Und vielleicht wollten sie mir auch das Mal der Traumdeuter zeigen, damit ich verstehe, wer du bist. Und … es war kein Zufall, dass wir uns zum ersten Mal im Konferenzraum getroffen haben, nicht wahr? Du solltest für die Mégan überprüfen, ob eine meiner Gaben verschwunden ist.«
Er schluckte schwer und sah wieder aufs Meer. Aber sein Schweigen war Antwort genug.
Die Vorstellung, dass die Gaben zerstört werden konnten, wie es in früherer Zeit geschehen war, machte mir Angst. Wie tötet man Geister? , dachte ich. Aber Schwester Glanz ist kein Geist mehr, sie hat einen Körper, sie ist real.
»Wie kann das geschehen?«, rief ich verzweifelt. »Wie können unsere Gaben zu Menschen werden und uns verlassen?«
»Sie sind keine Menschen«, murmelte Amad. »Nicht in unserer Wirklichkeit, hier sind sie körperlos und können sich nicht manifestieren.«
»Und doch ist es passiert! Aber Tian ist ganz sicher kein Traumdeuter, wie konnte er meine Schwester also überhaupt sehen?«
»Genau das wollen die Mégan herausfinden. Um jeden Preis. Und deshalb brauchen sie beide: Tian und vor allem deine Schwester.«
»Ghan gibt niemanden auf.« Die Worte der
Weitere Kostenlose Bücher