Der dunkle Kuss der Sterne
weißer Raubvogel glitt im Fackelschein über der Oberfläche dahin, vielleicht war es ein Fischadler. Aber bevor er zustoßen konnte, wurde er selbst zur Beute: Ein Hai schoss nach oben, schnappte den Raubvogel und riss ihn mit sich in die Tiefe. Ich schauderte.
»Ich weiß nur eines: dass man Menschen nicht stehlen kann«, sagte Amad leise. »Sie sind frei, zu denken und zu lieben. Und niemand hat deine Schönheit gestohlen, Canda. Weil sie nie dein Besitz war.«
Fast war ich ihm dankbar, dass ich ihn für diese Worte hassen konnte. Es linderte den Kummer und den Schock und ließ den Schmerz zu einem schwarzen, klebrigen Pochen schmelzen, kälter und erträglicher.
»Das ist nicht wahr. Wenn ich die Diebin anschaue, dann ist es, als würde ich mich selbst sehen. Sie hat meinen Glanz, mein Lächeln, sogar meine Bewegungen.«
»Dann weißt du doch, wer sie in Wirklichkeit ist, Canda! Tief im Herzen kennst du die Antwort längst.«
Sieh hin! Ich erinnerte mich an den blonden Jungen, seine drängenden Worte.
Ich schüttelte den Kopf und wich zurück. »Ich weiß nicht, wovon du redest!«
»Weil du es nicht wissen willst.«
Amad trat vor und packte mich bei den Schultern. Seine Finger gruben sich in meine Haut. In mir schrien meine Stimmen vor Entsetzen auf – aber irgendetwas in mir hatte den verrückten Impuls, ihn einfach zu umarmen und mich aus diesem Albtraum in die Sicherheit seiner Nähe zu flüchten.
»Was hast du noch zu verlieren?«, beschwor mich Amad. »Schließ die Augen, schau hin. Manche Wahrheiten sieht man am deutlichsten durch geschlossene Lider.«
Wie Manoa? Ich schüttelte erschrocken den Kopf und wand mich grob aus seinem Griff. Gras schnitt über meine Füße und der Wind wehte mir das Haar ins Gesicht, als ich davonrannte.
»Du schreist doch ständig nach der Wahrheit, tapfere Moreno?«, rief Amad mir nach. »Und jetzt bist du zu feige dazu, sie bei dir selbst zu suchen? Du warst mutiger, als du mich geküsst hast, Canda Hasenherz.«
Schwer atmend blieb ich stehen, mit geballten Fäusten. Ich hatte doch noch etwas zu verlieren, das war eine interessante Entdeckung. Meinen Stolz. Und es stimmte. Niemand auf der Welt hatte weniger zu verlieren als ich. Die Augen zu schließen, war wie ein Sinken in absolute Einsamkeit. Und dennoch – da waren sie. Und diesmal war ich froh, dass ich meine Traumgestalten nicht an der Schwelle des Todes verloren hatte.
»Weißt du noch?« , flüsterte der ängstliche Junge. »Wie Tian sich vor deiner Brautnacht verabschiedet hat? Und wie er dich dabei angesehen hat – dich und deinen Glanz?«
»Es ist der Weg, der dich führt« , sagte die sachliche Stimme. Sie gehörte, das erkannte ich nun, dem grauhaarigen schlanken Mann. Er stand hinter der Glashaut und bewegte die Lippen nicht, aber trotzdem hörte ich ihn.
»1+1=1« , schrieb das mathematische Mädchen.
Weil wir … eins sind? , dachte ich.
»Die Sterne haben dir vier Geschwister geschenkt, kleine Prinzessin« , murmelte meine Amme. »Sie wurden nicht von deiner Mutter geboren und dennoch sind sie dir näher als Geschwister von Familienblut. In deiner Geburtsstunde kamen sie mit dir auf die Welt, geboren im Reich der Geister aus Sternenstaub und Himmelslicht. Und bei deinem ersten Atemzug sanken sie zu dir herab. Bis zum Tod begleiten sie dich, unsichtbar, aber immer mit dir verbunden. Sie sprechen in den Träumen zu dir und schenken dir ihre Gaben, sie küssen dich und segnen deine Schritte, sie warnen dich vor Gefahr, sie helfen dir und beschützen dich. Sie sind deine Stimmen der Vernunft, Stimmen der Liebe, der Warnung und des Trostes. Ehre sie gut und höre auf sie!«
Es war die Geschichte, die jedes Kind in der Stadt kannte und die als Erwachsener niemand mehr erzählte, weil sie als Aberglaube verpönt war. Auch ich hatte sie als Kind geliebt und als Erwachsene gehorsam belächelt. »Du bist nicht allein«, hallte Manoas Stimme in meinem Kopf. »Ihr seid … drei.« Und sie hatte nicht mich und die Wächterschatten damit gemeint.
Ich riss die Augen auf und blinzelte zum Himmel. Jetzt wusste ich, was Amad in jener Nacht gemeint hatte, in der ich vom Rabenmann geträumt hatte. Ich sah den Himmel wirklich nicht durch meine Augen – sondern mit den Augen des Mädchens mit den Kirschlippen, das nur in Zahlen dachte und sprach.
Dann gab es noch den blonden Jungen, der so viel Angst hatte, weil er nichts vergessen konnte und deshalb in allem, was geschah, alle Möglichkeiten sah, auch die
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