Der dunkle Kuss der Sterne
ertrank, diesmal unwiderruflich.
Hand in Hand rannten sie zu dem zweiten Mann, Münzen blitzten im Fackelschein auf, die Blonde zahlte mit ihrem Tanzgeld für die Passage, dann eilten sie zu den Sklaven auf das Schiff, im letzten Moment, als das letzte Seil fiel, der Steg eingeklappt wurde. Der Kerl, der das Geld genommen hatte, blieb im Hafen zurück und holte die Seile ein. Die Strömung sog das Schiff aus dem Hafen, ohne dass ein Ruder sich bewegte.
Und Tian umfasste das Gesicht der Diebin zärtlich mit den Händen, er lächelte und dann … küsste er sie.
Die Zeit blieb stehen, der Hafen verschwand und zurück blieb nur das erstarrte Bild der beiden. Ein Kuss wie eine Klinge, die alles durchtrennte, was mich je mit der Welt verbunden hatte. Er ist nicht entführt worden. Er hat mich verlassen. Er küsst eine andere.
Irgendjemand gab einen schrecklichen Laut von sich, ein verwundetes Tier, das seinen Schmerz durch eine zu enge Kehle presste. Eine Hand umfasste meine Schulter, eine Stütze, die mich jedoch nicht rettete. Nichts konnte mich retten. Ich fiel wieder dem grünen Marmor entgegen. Meine Mörderin entfernte sich – trieb immer weiter im Meeresnebel davon, in den Armen des Verräters, den ich geliebt hatte. Und ich zerschellte.
*
Ich erinnerte mich kaum an meine Amme, die mich anstelle meiner Mutter umsorgt hatte. Ihre Gestalt war nur ein Schemen aus weichem Stoff und Hautduft, aber ihre Stimme und ihre Märchen waren mir so gegenwärtig, als hätte sie mich nie verlassen. Ihre Geschichten erzählten von schönen Wüstenfrauen, von bösen Geistern und vom guten Tod. In den Märchen hieß es, die Toten wanderten durch eine schwarze, sternenbestickte Wüste. Sie lösten sich im Wind auf, mit jedem Schritt ein wenig mehr, sie wurden leichter und leichter, verwehten, bis nur noch ihre Skelette über schwarze Dünen wanderten, und schließlich zerrieb der gnädige Wind auch die Knochen, und die Menschen wurden zu nichts. Erlöst, ohne Gedächtnis, ohne Schmerz und Vergangenheit. Partikel in der Ewigkeit, Teile von etwas Neuem – der Todeswüste, die auf neue Wanderer wartete.
Diese Geschichte war eine Lüge.
Ich war tot. Aber nichts war leicht und ich war immer noch da. Ich fühlte schärfer als je zuvor. Taugras brannte an meiner Stirn, so zusammengekrümmt kauerte ich auf dem Boden. In meinem Kopf echoten wie ein höhnischer Gesang im Kinderliedtakt immer die gleichen Sätze: Niemand hat ihn entführt. Er hat mich verlassen.
Plötzlich bekamen so viele Dinge einen Sinn. Tians Abschiedsworte und seine Zerstreutheit in den Tagen vor unserer Verbindung. Und die Fallen und Windfänger. Tians Locken und ihre blonden Strähnen. Es war ein Bund, der mit dem Blut der Verfolger besiegelt werden sollte, stärker als ein mit Tinte unterzeichneter Vertrag zwischen zwei Familien, und stärker als siebzehn Jahre mit mir.
»Canda, hol Atem«, sagte eine besorgte, sanfte Stimme. Ich gehorchte und das war ein Fehler. Der Schmerz flutete mit dem Atem in meinen Körper. Und die einzige Möglichkeit, ihn zu ertragen, war der Zorn. Ich richtete mich auf. Die Wächterschatten flackerten in meinen Augenwinkeln, aber heute brauchte ich ihre Einflüsterungen nicht.
»Ich werde sie einholen«, stieß ich hervor. »Sie werden dafür bezahlen. Beide.«
»Und wofür willst du sie bestrafen?«, erwiderte Amad ernst. »Dafür, dass sie sich lieben? Dass sie sich den Gesetzen eurer Stadt nicht beugen wollen?«
Liebe? Wie aus der Ferne nahm ich wahr, wie ich hochschnellte.
»Du stehst also immer noch auf ihrer Seite«, presste ich hervor. »Aber sie haben kein Recht, zu lieben! Und kein Recht, mich zu opfern. Deine blonde Diebin hat mir alles gestohlen, was ich hatte. Meine Schönheit – und ihn.«
»Erstens ist es nicht meine Diebin, wir sind kein Paar und waren es nie. Und zweitens hat jeder dir gesagt, dass er dich verlassen hat«, erwiderte Amad mit dieser Sanftheit, für die ich ihn am liebsten geohrfeigt hätte. »Nur du allein hast an eine Entführung geglaubt. Und diese Frau soll ihn dir also gestohlen haben?« Er schüttelte den Kopf. »Du redest wie ein Sklavenhändler. Ist Tian eine teure Vase, die man irgendwo mitgehen lässt?«
»Du hältst mir Predigten?«, fauchte ich ihn an. »Du? Erklär mir lieber, wie es möglich ist, dass jemand die Gabe eines anderen stiehlt!«
Er zögerte, sein Blick schweifte zum Meer. Unter der Wasseroberfläche zogen leuchtende Fische ihre Bahn, Funken im Ascheschwarz. Ein
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