Der dunkle Kuss der Sterne
könnte ein Hai sein. Dann lief Amad so schnell bergauf, dass ich Mühe hatte, ihm zu folgen. Achthundertvierunddreißig Schritte hinter der Stadt blieb er zwischen zwei Felsen stehen. Von der Treppe aus hatte ich diese Stelle der Küste nicht gesehen, zu gut war sie hinter einem Wall aus Felszähnen verborgen. Von hier oben wirkte die kleine Bucht wie ein Lächeln aus Asche. Das Fackellicht brachte Schlieren von Meeresnebel zum Leuchten, an Land aber wurde jedes Licht fast verschluckt: schwarz der Strand, schwarz die Reihe kleiner Hügel entlang der Wasserlinie, sogar im Wasser selbst trieb eine Dunkelheit, die tiefer war als die Nacht. Dann begriff ich, dass es tatsächlich Asche war, und die Hügel waren die Reste alter Scheiterhaufen. An einigen Felsen waren Schädel befestigt – geschmückt mit Lederbändern und Muscheln. Meine Knie wurden so weich, dass ich mich an dem Felsen abstützte. »Ist das ein … Hinrichtungsplatz?« Bitte nicht!
»Es ist das Ende der Welt«, antwortete Amad. »Der Schädelhafen. Von hier aus treten die Menschen von Tibris die letzte Reise an. Sie werden verbrannt, damit die Haie sie nicht holen. Siehst du die kleinen Holzboote? Viele Leute schicken die Knochen ihrer Verstorbenen mit der kalten Strömung über das Meer, in das Land des weißen Himmels, so nennen sie es. Nur Sklaven haben kein Recht auf ein Bootsgrab oder eine Ruhestätte am Fels.«
Aber Tian ist nicht auf diesem Friedhof, er lebt , dachte ich verzweifelt. Ich spüre ihn doch!
Wen spürst du? Ihn oder die Diebin?, flüsterte meine sachliche Stimme so leise, als müsste sie sich vor Amad verbergen. Zweimal hat dich der Weg nur zu ihr geführt.
Ich brachte die nächste Frage kaum über die Lippen. »Soll das heißen, Tian ist tot?«
»Noch nicht«, antwortete Amad trocken. »Aber den Dolch hast du ja schon in der Hand.« Er deutete mit einem Rucken des Kinns zum linken Rand der Bucht. Ein schwarzes Schiff wartete dort, hochwandig und bis zur Reling gespickt mit nach unten gebogenen, zum Teil abgebrochenen Metalldornen. Eine Windsbraut hätte es mit einem beiläufigen Hüsteln versenken können, so schäbig und geflickt war es. Die Seile, die es hielten, waren straff gespannt, als würde eine Strömung an dem Schiff ziehen. Das Ächzen der Spanten trieb zu uns herüber. Eine Gruppe von Menschen ging gerade an Bord. Gestalten in abgerissenen Mänteln, manche hatten Kapuzen und Mützen über die Stirnen gezogen, die Köpfe hielten sie gesenkt. Eisen klirrte. Sklaven? Ein Transport mitten in der Nacht? Nur zwei von ihnen trugen keine Fesseln, vielleicht waren es Menschenhändler. Der kleinere war kahl und hüllte sich in eine Jacke, der größere, schlankere hatte sich die Kapuze eines langen Mantels über den Kopf gezogen. Sie blieben stehen, als würden sie auf jemanden warten.
Kein Tian weit und breit. Aber dafür wieder: sie!
Ich erkannte sie auf Anhieb, jeder Schritt, jede Bewegung war mein Spiegelbild. Sie hatte sich den Wüstenmantel übergeworfen und rannte, so schnell sie konnte, zum Ablegeplatz. Der Wind verwirbelte ihr helles Haar. Inmitten der Asche strahlte sie wie eine Geistergestalt. Pfiffe durchschnitten die Luft, die ersten Seile fielen ins Wasser und wurden an Bord eingeholt.
»Sie flieht aufs Schiff!« Ich wollte losstürzen, aber Amad packte mich am Arm und hielt mich mit eisernem Griff zurück. »Sieh hin!«
Im selben Moment entdeckten die wartenden Gestalten die Diebin. Der Größere ließ den anderen stehen und stürzte ihr entgegen. Die Kapuze rutschte ihm im Lauf vom Haar. Wenn Amad nicht gewesen wäre, jetzt hätte ich mich nicht mehr auf den Beinen halten können.
Ich hatte vergessen, wie Tian aussah, wenige Tage außerhalb von Ghan hatten genügt, um mich blind zu machen für unsere Schönheit. Im Licht von Schiffslaternen sah ich meinen Versprochenen mit den Augen einer Gewöhnlichen, geblendet von dem Glanz und der Perfektion, ein fremder, vertrauter Mann, so strahlend und schön, dass es mir den Atem nahm. Bronze und Kupfer. Tians Haar war zwar kurz geschoren, die Locken verschwunden, was ihn älter, erwachsener aussehen ließ. Aber seine Haltung, sein Stolz – und die Lippen, weich und so vertraut, dass ich sie fast auf meinen spüren konnte, waren noch die des Jungen, den ich schon mein ganzes Leben lang liebte.
Er blieb stehen, breitete die Arme aus, und die Diebin warf sich in diese Umarmung, die mir gehörte. Und ich konnte nur dastehen, mit dem Gefühl, dass ich wieder
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