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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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sind blinder, als ich es je sein könnte. Falls du tatsächlich die nächste Mégana wirst, gratuliere ich dir und werde dich an dein Versprechen erinnern. Falls nicht …« Sie zuckte mit einer bedauernden Grimasse die Schultern. »Werde ich vor den Méganes schwören, ich hätte dich durchschaut und dich zurückgebracht, um dich ihnen auszuliefern. Viel Glück!« Ich hörte ihr Lachen noch, als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte. Mit fahrigen Fingern faltete ich den Zettel auseinander. Wert des Eisenhais: 25 000 , stand dort in winziger, krakeliger Schrift. Gegenwert der Gabe nach derzeitigem Tarif: Sieben Monate und vier Tage. Viel Glück, blindes Mädchen! Und vergiss eines nicht: Fürchte dich nie vor den Herren. Nur vor Sklaven ohne Fesseln.
    Es war eine wichtige Lektion, die Manoa mir erteilt hatte. Und gleichzeitig verunsicherte sie mich so sehr, dass mir immer noch schlecht vor Schreck war, als der Verwalter wieder erschien. Ihm ging es offenbar nicht besser als mir. Verschwitzt, am Rande einer Panik und kreidebleich bat er mich, ihm zu folgen.
    Vor dem Zollhaus wartete eine bewaffnete Gardeeinheit. Ein schwarzer Schleier wurde mir gereicht, der meine Gestalt bis zum Boden verhüllte. Als ich das letzte Tor durchschritt, hob ich den Kopf nicht. Auch so wusste ich, dass ich vom eisernen Turm aus längst beobachtet wurde.
    Auch bei meinem letzten Besuch im Gerichtssaal war ich verschleiert gewesen, und wieder scharten sich jetzt flüsternde Menschen in den Gängen und rätselten, was dieser Aufmarsch zu bedeuten hatte. Aber heute betrachtete ich die Hohen Ghans durch den dunklen Schleier aufmerksamer als sie mich. Und was ich sah, war erschreckend und traurig: Menschliche Zentren, umgeben von einem Wabenwerk unsichtbarer Kerker. Lichter, die ihnen tatsächlich ein dämonisches Strahlen verliehen. Aber auch die Menschen selbst waren Gefangene ihrer Gaben: Jeder Schritt und jeder Gedanke war ihnen angepasst, jeder Weg bemessen, jede Freundschaft und jede Verbindung geplant wie ein Räderwerk, in dem alles perfekt zusammenpassen musste. Im Gegensatz zu Tibris wirkte das Leben in Ghan seltsam leblos.
    Die Geräusche in den Fluren waren gedämpft, niemand sprach laut, niemand lachte und rannte oder änderte seine Richtung. Auch meine Schritte passten wieder dazu. Schrittlänge siebzig Komma sieben Zentimeter. Die Luft roch steril nach genau dosierten Blumenaromen. Menschenfern , dachte ich benommen. Das war meine Welt, die ich geliebt habe . Aber wie konnte ich hier atmen und leben? Kein Wunder, dass Tian sich stets nach einer Flucht gesehnt hatte und dass Gavran diese Sehnsucht als Gabe mühelos verstärken konnte.
    Schwebend und fast lautlos glitt der gläserne Hydraulik-Aufzug nach oben. Auf jedem Stockwerk ließen wir neugierige Gesichter zurück. Im vorletzten Stockwerk stockte mir der Atem. Zabina und Anib! Meine Freundinnen standen dort und blickten uns nach. Offenbar waren sie gerade zu einem Fest unterwegs, auf dem sie tanzen sollten. Sie trugen identische Kleider aus gelber Seide und Goldschmuck, der warme Reflexe auf ihre Kastanienhaut und ihr schwarzes Haar warf. Jede ihrer Bewegungen war so anmutig, synchron und fließend, dass sie sogar mir wie zwei schöne Dämoninnen erschienen. Zwei Lichter sind an sie gebunden , dachte ich. Zwillinge teilen sich ihre Gaben. Zabina und Anib hatten das Talent für Tanz und perfekten Rhythmus. Und trotzdem erschien mir der wilde, ungelenke Tanz der Menge in Tibris schöner als alles, was ich je an meinen Freudinnen bewundert hatte.
    Draußen glühte die Wüste im allerletzten Abendschein. Im Vorzimmer der Méganes tauchten Lampen den Metalltisch bereits in kaltes Licht. Mein Herz machte einen schmerzhaften Satz, als ich den Drehstuhl entdeckte. Auch heute war er zum Fenster gewandt. Fast war ich sicher, dass er gleich herumschwingen und Amad darin sitzen würde, aber der Stuhl war leer. Und trotzdem reagierte die Graue, stellte die Ohren auf, witterte und stieß ein kurzes Bellen aus. Bitte lass mich recht haben , dachte ich mit klopfendem Herzen. Und lass mich so gut lügen, wie Juniper und Amad es mich gelehrt haben.
    »Man erwartet Euch, Herrin.«
    Tausendmal hatte ich mich darauf vorbereitet, vor die Méganes zu treten, aber jetzt wurde mein Mund trocken und alles Blut wich aus meinem Gesicht. Bei der fünfzigsten Stufe nahm ich den Schleier ab, ließ ihn auf der Treppe zurück und trat mit gesenktem Kopf durch den brusthohen Durchgang. Auch heute roch es

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