Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
auch hier kein Fenster, keine Regale, keine Bücher, nur auf dem Tisch lag eine Ledermappe voller Papiere. Und daneben ein lackiertes Podest mit drei roten Kerzen. Dort, wo die vierte sein müsste, prangte nur ein kreisrundes Loch. Die Wände schienen mich zu erdrücken, ich schnappte nach Luft und hatte trotzdem das Gefühl, zu ersticken. Wo ist mein viertes Licht? Maram zwang mich mit sanfter Gewalt, mich auf das Bett zu setzen, und eilte zum Wasserkrug. Mit einem vollen Glas kam sie zurück. »Armes Kind. Genauso ging es mir auch, als ich hier ankam. Du wirst lernen, als Einzelne zu leben. Die erste Zeit ist es zwar so, als müsste man ohne die Hälfte seiner Sinne und Gliedmaßen zurechtkommen. Aber es ist nicht das Ende des Lebens, auch wenn es dir im Augenblick so erscheint.« Das winzige Zucken der Mundwinkel mochte ein Lächeln sein. Ich schauderte beim Gedanken an eine solche Zukunft: Zur Maske erstarrt in einem Mausoleum der lebenden Toten, in denen nur noch das Echo von Erinnerungen hallte.
    Das Glas klapperte gegen meine Zähne, als ich trank. Ich bemerkte kaum, dass Maram flink die Knöpfe meines Kleides öffnete. »Kein Wunder, dass du keine Luft bekommst, das ist viel zu eng! Zieh dich aus, hier habe ich Kleidung in deiner Größe bereitgelegt. Deine Mutter ließ mir ausrichten, du trägst am liebsten Hosen.«
    Im Augenblick blieb mir nichts anderes übrig, als ihr zu gehorchen. Zögernd gab ich ihr das Glas zurück und streifte mein Kleid ab. Nun stand ich nur noch im dünnen Unterkleid da, sandfarbene Seide, die sich bis zu den Knien um meine Oberschenkel schmiegte.
    »Alles!«, befahl sie. Alles in mir wollte sich auflehnen, aber ich zwang mich dazu, auch das letzte Stück meiner alten Welt abzustreifen. Ich fror, als die Seide von meinem Körper glitt. Nackt stand ich da, doch Maram gab mir die neue Kleidung nicht. Brüsk wandte sie sich ab und nestelte an dem schwarzen Hemd herum. »Es ist nicht so schlimm, wie du vermutest«, erzählte sie ungerührt weiter. »Wären wir von niederem Stand, würde man solche wie uns töten. In anderen Städten töten sie sogar die Hohen, die verwaist zurückbleiben, hat man mir erzählt. Wir müssen also dankbar sein. Unsere Familien schenken uns das Leben und sind bereit, unseren Aufenthalt hier zu bezahlen, obwohl wir für die Stadt kaum noch Nutzen haben. Unser Lebenssinn besteht darin, uns dankbar zu zeigen und so viel wir noch können, an unsere Familien und die Stadt zurückzugeben. Es ist ein Privileg. Das einzige, das uns bleibt. Du hast immer noch dein hervorragendes Gedächtnis und kannst mit Zahlen umgehen, wirst also in der Verwaltung arbeiten. Wir müssen ja schließlich genau belegen, dass wir nicht mehr Geld verbrauchen, als unsere Familien bereit sind zu zahlen. Außerdem musst du deinen Verstand beschäftigen, sonst beginnst du nachts mehr und mehr zu träumen und dann verlierst du ihn.« Vielsagend senkte sie die Stimme und flüsterte: »Träume führen in den Wahnsinn. Solche haben wir hier auch – tragische Schicksale.«
    Ich ließ mich wieder aufs Bett sinken und krallte meine Hände in die Matratze. So ließ es sich besser aushalten.
    Maram seufzte tief. »Tja, wir sind wie abgetrennte Glieder. Und du hast natürlich noch mehr verloren als jeder hier.« Mit einer so verschämten Geste, als würde sie auf etwas unendlich Peinliches deuten, zeigte sie auf mein Gesicht.
    Das heißt wohl, ich bin doppelt so nutzlos , dachte ich. Und dass ich nackt hier herumsitzen muss, soll mir das zeigen. Bisher hatte ich keine Gefühle gegenüber der alten Frau gehabt – weder Ab- noch Zuneigung, jetzt aber wusste ich ganz sicher, dass ich sie nicht mochte. »Ich will mit meiner Familie sprechen!«
    Maram seufzte und legte den Kopf schief. »Oh, hat man dir gar nicht gesagt, dass es keinen weiteren Abschied mehr geben wird? Du wirst sie leider nie wiedersehen. Tut mir leid, Kind, du gehörst nicht mehr zu ihrer Welt.« Beiläufig pflückte sie eine Staubfluse von dem Hemd, aber aus den Augenwinkeln lauerte sie auf eine Reaktion von mir. »Natürlich verstehe ich deine Angst und deinen Kummer«, setzte sie hinzu. »Verlassen zu werden, muss tausendmal schlimmer schmerzen, als den Partner durch den Tod zu verlieren.«
    Es war ein wohlüberlegter Hieb. Und ich verstand, dass auch meine Entschleierung keine Gedankenlosigkeit gewesen war. Hexe . Du genießt es also, unter dem Mäntelchen deines Mitleids Macht über mich zu haben wie über ein gefangenes Tier.

Weitere Kostenlose Bücher