Der dunkle Kuss der Sterne
fünfzig sein und hatte ein breites, grimmiges Gesicht mit buschigen Brauen. Narben zeichneten seine Hände und seine rechte Wange. Jetzt wurde mir bewusst, dass ich ihn nie gefragt hatte, woher sie stammten.
Als wären die Standesgrenzen an diesem Ort aufgehoben, berührte er mit einer erstaunlich zarten, bedauernden Geste meine Hand. Seine Finger, die seit vielen Jahrzehnten Tag für Tag die Waffe umfasst hielten, waren schwielig und hart wie Holz. »Es tut mir unendlich leid für Euch, Canda«, sagte er leise. »Lebt wohl.«
»Danke«, war alles, was ich mit erstickter Stimme herausbrachte. Er nickte niedergeschlagen, und dann schritten die beiden Leibwächter davon, stumm beobachtet von den Gespenstern der oberen Stockwerke.
»Willkommen.«
Die Verwalterin musste die Kunst beherrschen, völlig lautlos heranzuschweben. Oder vielleicht hatte sie schon die ganze Zeit vor einer der ebenholzfarbenen Türen gestanden, mit ihrem schwarzen Gewand eins mit den Schatten. Sie war zierlich, fast einen Kopf kleiner als ich. Ihr graues Haar fiel zu einem langen Zopf geflochten über ihre linke Schulter. Und sie lächelte wohl nur selten, kein Fältchen störte die ledrige Glätte ihrer Haut. Sie nahm meine Hände in ihre, eine Vertraulichkeit, die seltsam plump und unpassend wirkte.
»Mein Beileid zu deinem Verlust.« Sie flüsterte, als dürfte kein Laut die Grabesstille hier stören. »Hat man dir schon gesagt, wer ich bin?«
»Die … Verwalterin«, erwiderte ich ebenso leise.
»Ja, und außerdem bin ich deine Großtante Maram. Mein Mann starb an einer Krankheit, als wir beide fünfundvierzig Jahre alt waren, lange vor deiner Geburt. Damals war es nicht mehr möglich für mich, einen neuen, passenden Partner zu finden. So kam ich hierher.«
In Gedanken durchforstete ich die alten Fotografien, die meine Schwester und ich als Kinder heimlich aus Schubladen geholt hatten. Und tatsächlich erinnerte ich mich vage an das Bild einer schwarzhaarigen Frau auf einem Foto. Sie war ebenso zierlich wie Maram, allerdings hatte sie auf dem Foto gelacht. Als ich meine Mutter einmal gefragt hatte, wer die fröhliche Frau war, hatte ich die Antwort bekommen, sie sei schon vor langer Zeit gestorben. Wie ich , dachte ich.
»Ich freue mich, Euch kennenzulernen, Großtante Maram.« Und wie es sich vor einer älteren Verwandten gehörte, beugte ich zum Zeichen des Respekts den Nacken. Sie strich mir über das Haar und streifte dabei den Schleier ab. »Den brauchst du nicht mehr. Hier gibt es keine Geheimnisse.«
Ein erschrecktes Murmeln echote in den Galerien. Ich fand es grausam, mich vor diesen Fremden bloßzustellen, aber sicher war sich die Alte dessen gar nicht bewusst. Offenbar war sie gewarnt worden, sie seufzte nur. »Ein Jammer, dass du deinen Partner so jung verloren hast. Du hattest alles noch vor dir.« Und es gibt wohl die Abmachung, nicht zu sehen, was mit mir passiert ist. »Eine so junge Bewohnerin gab es hier noch nie«, plauderte sie weiter. »Die meisten sind viel älter, wenn sie herkommen. Sie verbringen hier nur ihre letzten Jahre.« Sie umfasste mit einer genau abgezirkelten Geste die Menschen an den Balustraden. Einige wandten sich ab und flohen in die Dunkelheit. Türen schlugen so laut zu, als wollten die Gespenster mich aussperren. Vielleicht brachte ich die Erinnerung an bessere Tage zurück.
»Komm mit. Ich zeige dir dein Zimmer.«
Mit lautlosen Schritten setzte sie sich in Bewegung und ließ meine Hand dabei nicht los. Irgendwo unter ihrem schwarzen Gewand klirrten Schlüssel. Es war, als würde ich an der Seite einer mechanischen Aufziehpuppe quälend langsam dahintrippeln. Schrittchen für Schrittchen hielt sie auf eine halb verborgene, schmale Treppe zu. Ebenso langsam krochen wir in das erste Stockwerk hinauf, umrundeten eine Galerie. Wie im Erdgeschoss reihten sich auch hier schwarze Türen auf. Die meisten standen offen, dahinter sah man leere Kammern, in jeder ein kahles Bett, ein Tisch, ein Wasserkrug.
Im dritten Stock blieb Tante Maram vor einer Tür stehen, holte umständlich einen kleinen Schlüsselbund hervor und schloss auf. »Dein neues Reich«, sagte sie munter.
Sie schritt in die Mitte des Raumes und strich sich das lange Gewand glatt – mit einer Geste, die so langsam und abgezirkelt war, dass ich fröstelte. Wie viele dieser Gesten strukturierten ihre Tage?
Das Bett war mit einfachem steingrauem Stoff bezogen. Zusammengefaltete schwarze Kleidung lag darauf für mich bereit. Aber
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