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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Euch!«
    »So leid es mir tut, vor dem Familiengesetz endet unsere Macht«, antwortete sie. Aber bevor sie meine Hand losließ, flüsterte sie mir zu: »Ghan gibt niemanden auf!«

Eine zukünftige Mégana musste ihr Reich kennen, das hatte meine Mutter mir eingeschärft, seit ich sprechen konnte. Angeblich wanderten die Méganes sogar manchmal unerkannt in der Stadt herum. Ich hatte noch nie in meinem Leben den innersten Kreis und die oberen Stockwerke und Dächer verlassen, trotzdem kannte ich Ghan so gut, dass ich auf dem Stadtplan den Weg von jedem beliebigen Punkt der Stadt zu einem anderen hätte einzeichnen können, ohne den Stift auch nur einmal abzusetzen. Aber als die beiden Leibwächter meiner Eltern mich einige Stunden später durch ein Mauertor aus dem innersten Kreis hinausführten, kam es mir vor, als würde ich eine fremde Stadt betreten.
    Das Haus der Verwaisten befand sich im zweiten Ring – auf ebener Erde. So tief unten war ich noch nie in meinem Leben gewesen. Meine Welt waren die Spitzen der Hochhäuser, die Dächer und Gärten unter Sonnensegeln. Der Horizont, den ich jederzeit aus einem Fenster sehen konnte. Jetzt betrat ich zum ersten Mal wirklichen Boden. Rötlicher Staub wirbelte bei jedem unserer Schritt auf. In den Gassen war es beängstigend eng, schattig und düster. Jeder Flur im Haus meiner Familie war breiter. Und ganz oben zwischen den Kronen der hohen Häuser schwebte wie ein letzter Gruß meines verlorenen Lebens ein schmaler Streifen Himmel, orangerot leuchtend und unendlich fern.
    Auf dem Stadtplan war das Haus der Verwaisten nur als schraffiertes Rechteck eingezeichnet. Die Rückseite war bereits Teil der dritten Ringmauer. Ich war erschrocken, wie düster und heruntergekommen der Bau von außen wirkte. Er musste noch aus der Zeit stammen, als Ghan nur aus zwei Ringen bestand und die Mauer, an die das Gebäude sich lehnte, die äußerste Stadtmauer gewesen war. Vielleicht waren deshalb die Fenster kaum mehr als schmale Scharten.Über dem Tor aus schwarzem Holz prangte ein verwitterter Schriftzug:
    Tritt ein und lasse alles zurück.
    In Gnade leuchte dir Bruder Mond, der große Einzelne am Firmament.
    Als hätte der jüngere Wächter gespürt, dass ich den Impuls hatte, mich einfach umzudrehen und zu fliehen, legte er mir respektvoll, aber nachdrücklich die Hand auf die Schulter. Leute blieben stehen und starrten uns hinterher: Zwei Leibwächter mit entsicherten Schusswaffen und dazwischen eine verschleierte Gestalt, die vom Dunkel hinter der Schwelle verschluckt wurde.
    *
    Der Übergang vom schattigen Abendlicht in die Düsternis, von Lärm in absolute Stille war ein Schock. Als hätte ich mit dem Schritt über die Schwelle zwei meiner Sinne verloren . Und das ist erst der Anfang , schoss es mir durch den Kopf. Die Panik drohte mich wieder zu übermannen. Doch ich rief mir die Worte der Mégana ins Gedächtnis. Sie würde mich nicht im Stich lassen. Vielleicht würde sie meine Eltern überzeugen, dass ich nicht hierbleiben durfte. Zumindest war das die einzige Hoffnung, die ich noch hatte.
    Erst nach einigen Schritten hatten sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt und ich erkannte einen rechteckigen Raum aus schwarzem Marmor. Ein kleines Öllicht, das an einer Kette herabhing, spendete etwas Helligkeit. Unsere Schritte bekamen ein Echo. Der Platz war umfasst von Galerien. Auf jedem Stockwerk gab es eine, von der aus man auf den zentralen Platz des Hauses herabschauen konnte. Die Brüstungen aus dunklem poliertem Holz waren alle gleich. Es war wie in einen Doppelspiegel zu schauen, in dem sich alles endlos vervielfältigte. Bis zum heutigen Tag hätte ich jeden Eid geschworen, dass es keine Gespenster gab, aber beim Anblick der Menschen, die sich über die Brüstungen beugten, war ich mir nicht mehr so sicher. Alle trugen schwarze unförmige Kleidung. Ihre ernsten Gesichter waren so blass, als hätten sie seit Jahren die Sonne nicht gesehen, was vermutlich sogar stimmte. Als hätte ich die Schwelle zu einem Totenhaus übertreten , dachte ich mit einem Frösteln. Rasch senkte ich den Blick.
    An der Stirnseite des Platzes hielten die Wächter an. »Die Verwalterin wird Euch gleich hier abholen«, brummte der Ältere. Er schluckte und räusperte sich. Ich kannte ihn seit meiner Geburt, seine Gegenwart war für mich so selbstverständlich gewesen wie das Vorhandensein von Stühlen und Tischen. Aber nun kam es mir so vor, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Er musste schon

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