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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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vor sich sah, wenn er die Augen schloss. Verstohlen musterte ich ihn. Seine Haltung hatte die träge Spannung einer ruhenden Raubkatze. Ich schluckte und wandte schnell den Blick ab. »Und wie vertreibst du solche Träume?«
    Die Frage schien ihn zu amüsieren. »Was glaubst du, Canda Nachtgespenst? Gar nicht! Wenn du sie fortjagst, sind sie wie gekränkte Gäste. Sie hämmern nur noch lauter an deine Türen und zertrümmern sie schließlich. Ich kann dir nur einen Rat geben: Lass sie herein. Betrachte sie, höre ihnen zu. Sie können dir nichts anhaben, solange du ihnen nicht glaubst. Sie sind die Lügen, die die Nacht uns ins Ohr flüstert.«
    Jetzt musste ich lächeln. »Glaubt man das in deinem Land? Kommst du aus Suvrael?«
    »Warum?«
    »Dort liegt das ganze Jahr Schnee. Oder sind es die Eiseninseln. Oder Grauland?«
    Er setzte sich ruckartig auf, stützte die Arme nur scheinbar locker auf die Knie. »Mein Land kennst du nicht.«
    »Ich kenne alle Länder, die jemals bereist wurden.«
    »Ach wirklich? Du bist doch nie aus deiner Stadt herausgekommen. Soweit ich weiß, braucht ihr sogar eine Sondererlaubnis der Herrscher, um zwei Meilen in die Wüste zur Jagd zu reiten. Vom fremden Ländern ganz zu schweigen.«
    »Aber wir haben Bücher. Die größte Bibliothek …«
    »Tinte und Papier, aha. Da, wo ich herkomme, liest man nicht, man sieht lieber mit eigenen Augen. Bücher sind von Menschen geschrieben, die vielleicht die Wahrheit sagen, vielleicht aber auch nicht. Und so oder so leihst du dir die Augen eines Fremden, statt dich auf deine eigenen zu verlassen.«
    Ich hatte tatsächlich vergessen, wie verschieden wir waren. Es war nicht nur die Entfernung von Stand und Familie, wir lebten auf völlig unterschiedlichen Kontinenten.
    »Keine Bücher?«, sagte ich fassungslos. »Aber wenn ihr nicht schreibt und lest, wisst ihr doch überhaupt nichts von der Welt!«
    »Und du weißt etwas davon?«, spottete er. »Dann lies mir mal vor, was da oben geschrieben steht!«
    »Was meinst du?«
    »Was schon, Papierverschlingerin? Das nachtblaue Buch mit Sternenschrift.«
    Ich stutzte, überrascht von diesem Bild des Himmels, das mich trotz allem fast wieder zum Lächeln gebracht hätte. »Das ist leicht! Mit dem bloßen Auge erkennt man dreitausendvierhundertzwanzig Sterne. Aber auf unseren Himmelskarten haben unsere Astronomen insgesamt dreihundertvierundsiebzigtausend verzeichnet, also genau … einhundertneunkommadreimal so viele. Der helle Stern dort im Norden ist Nummer fünfhundertsechzehn, vierhundertsiebzig Milliarden Jahre alt.«
    Amad war alles andere als beeindruckt. »Nummer fünfhundertsechzehn?«, murmelte er fassungslos. Er ließ sich zurückfallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Deine Fünfhundertsechzehn ist Prinzessin Meda. Sie war schön wie ein Schneefalter und herrschte über das Land hinter dem Onyxfluss. Du siehst ihn am Himmel – das dunkle Band ohne Sterne. Seine Wasser waren schwarz und wellenlos, und wer hineinblickte, sah die Wahrheit, genauso gut oder grausam, wie sie wirklich war. Wer diesen Fluss überqueren wollte, ließ nichts zurück oder verlor alles, sogar sich selbst. Es gab kaum Menschen, die genug Mut hatten, aber die wenigen, die es wagten und die vom schwarzen Wasser nicht verschlungen wurden, empfing Meda auf der anderen Seite, stolz und leuchtend wie der Mond. Sie half ihnen aus dem Fluss und küsste ihnen die Augenlider.«
    Bei Tag hätte ich über solche Märchen vielleicht nur mitleidig gelächelt, aber hier, im fahlen Licht der Nacht, zog Amads Erzählung mich gegen meinen Willen in den Bann. Oder vielleicht war es nur seine Stimme. Sie klang nicht weich und lächelnd wie die von Tian, sondern fast wütend, rau und voller Wehmut. »Als die Menschen die Augen wieder aufschlugen, sahen sie, was andere nicht sahen: den Schmetterling, der noch in seinem Kokon schlief, das gebrochene Herz in der Brust eines Mannes, die Träume, die niemand zu träumen wagte – und andere, die zu oft geträumt wurden, sodass sie verblichen waren wie alte Spitze. Sie waren Medas Menschen geworden, konnten durch Träume reisen, Feuer ohne Glut und Liebe ohne Küsse entfachen, Kriege ohne Waffen und Lachen ohne Stimme. Der Tod war ihnen fern.«
    Die Bilder hallten in der Stille nach wie farbige Klänge. Das fremdartige Märchen hatte nichts mit den Legenden unserer Stadt gemeinsam, und nichts mit den Geschichten, die Tian mir ins Ohr geraunt hatte. Es ähnelte einem Traum, aber einem,

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