Der dunkle Kuss der Sterne
Rabenfedern.
»Endlich hast du mich gefunden«, flüsterte er.
Er lächelte mir zärtlich zu.
Dann stieß er mir meinen eigenen Dolch ins Herz.
Nur ein Traum! Wach auf! Ich war sicher, dass ich es laut schrie, aber im Traum rang ich nur stumm nach Luft und starrte fassungslos auf die Wunde.
Der Rabenmann war fort und ich musste vom Bett gerutscht sein. Keuchend krümmte ich mich auf dem Glasboden. Mit jedem Herzschlag pulste ein Schwall Blut aus der Wunde. Es war nicht rot, sondern klar wie Wasser. Und ich spürte keinen Schmerz, nur das Pochen dieser entsetzlichen Leere, dort, wo mein halbes verwaistes Herz zuckte und sich wand. Unter mir schlugen Hände gegen das Glas.
»Canda, wach auf!« Es war die ängstliche junge Stimme, die ich schon kannte, und jetzt war ich mir sicher, dass sie nicht von einem Mädchen stammte. Der Junge stand hinter mir, ich spürte seine Nähe genau. Mein ganzer Körper war Gänsehaut, ich wagte nicht, über die Schulter zu sehen. Die Verrückten unter Glas riefen etwas. Leider verstand ich sie nicht, ihr Ruf war ein Echo, in dem sich mehrere Stimmen mischten …
… wie das vielstimmige Heulen des Windes, der um die Felskronen strich.Nach Luft ringend und zitternd saß ich auf meinem Lager und presste mit aller Kraft die Hände auf mein Herz, um die Blutung zu stillen. Aber ich hatte keine Wunde – und mein Dolch steckte immer noch an meinem Gürtel. Immer noch fröstelte ich, als würde der Junge mit der ängstlichen Stimme direkt hinter mir stehen. Ein Windhauch wehte mir ins Gesicht, Ascheflocken fingen sich in meinem Mund. Sie schmeckten bitter nach Tod und Verlust. Ich hustete und spuckte sie aus. Ich musste lange geschlafen haben, die Glut der Feuerstelle war erloschen, aber Morgen war es noch nicht. Ich fuhr herum, die Hand am Dolch, aber niemand war hier. Und trotzdem spürte ich die Gegenwart so deutlich wie meinen eigenen Herzschlag.
»Graue!« Das Echo suchte den Hund und fand ihn nicht.
Irgendwo raschelten Federn, ein scharfer Flügelschlag ließ mich zusammenzucken. Ich hätte jeden Eid geschworen, dass es ein Rabe war, aber als ich aufsprang, verhallte ein schriller Ruf in der Nacht. Es war nur ein Falke, beruhigte ich mich. Er hat mich beobachtet – deshalb habe ich mir eingebildet, dass jemand hinter mir steht. Aber ich war allein.
Das brachte den nächsten Schreck: Ganz allein!
Amads Lager war leer, und auch der Rucksack, der neben dem Feuer gelegen hatte, war verschwunden. Er hat mich im Stich gelassen, ohne Wasser und …
»Canda?«
Ich fuhr herum und wusste nicht, ob ich Amad schlagen und beschimpfen oder erleichtert sein sollte.
»Pirschst du dich immer an wie ein Geist? Oder warst du gerade dabei, dich davonzuschleichen?«
»Weder noch. Was ist los?«
Nur langsam gewöhnten sich meine Augen an das Sternenlicht, aber ich konnte erkennen, dass er den Rucksack geschultert hatte. »Wo zum Henker warst du?«, brach es aus mir heraus. »Warum nimmst du das Gepäck mit? Und wo ist der Hund?«
Sogar im Sternenlicht konnte ich die Bestürzung in seiner Miene erkennen. »Du hast im Ernst geglaubt, ich würde dich hier zurücklassen?«
»Was würdest du denken, wenn ich samt Gepäck verschwunden wäre!«
»Das Logische: dass du wohl einen Grund haben wirst. In der Nähe gab es Steinschlag und ich wollte nach den Pferden sehen. Den Rucksack habe ich mitgenommen, falls ich Seile und Licht brauche. Und deine Graue hat darauf bestanden, mir dabei vor den Füßen herumzustolpern. Ich habe sie bei den Pferden gelassen.«
»Warum hast du mich nicht geweckt!«
»Weil du geschlafen hast wie eine Tote. Nicht einmal das Donnern der Steine hat dich gestört und du hast … Was ist los?«
Ich konnte nicht antworten. Ich war erstarrt, lauschte, kaum fähig, Atem zu holen. Jedes Härchen an meinem Nacken stellte sich auf, Flüstern in meinem Kopf mit fremder, angsterfüllter Stimme. »Canda! Sieh genau hin!« Die Gegenwart, ich spürte sie wieder, dichter bei mir, fast Haut an Haut.
»Amad?« Meine Worte waren ein kaum verständliches, ersticktes Flüstern. »Hier … hier ist jemand! Direkt bei mir!« Und plötzlich fügte sich die Stimme zu einem Gesicht aus einem anderem Traum – vor Tagen, als ich nach meiner Flucht unter einem Karren weggedämmert war: ein dreizehnjähriger Junge mit blondem Haar und Bernsteinaugen. Es war verrückt, aber ich hätte jeden Eid geschworen, dass er hier war, körperlos, unsichtbar. Und er hatte noch größere Angst als ich. Vor
Weitere Kostenlose Bücher