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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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meiner Familiengeschichte, die ich vielleicht vergessen hatte. Aber ich wusste, es war unmöglich: Niemals, niemals würde ein Mitglied der Familie Moreno seinesgleichen töten und niemals hätte ein Teil einer Zweiheit die Waffen gegen den anderen Teil seiner eigenen Seele erhoben. Tana Blauhand starb nicht im Krieg, sie wusch sich die blaue Kriegsbemalung von den Händen und wurde die erste Mégana unserer Stadt. Nie wieder nahm sie eine Waffe in die Hand. Und nur an einem einzigen Festtag im Leben tragen wir Morenos seither die Farbe unserer Geschichte auf der Haut: in der Nacht vor unserer Zweiwerdung. Und doch steht es am Fels anders geschrieben . Ich schüttelte den Kopf und multiplizierte Primzahlen, bis ich vor Erschöpfung in den Schlaf glitt. Aber dort retteten mich auch meine Zahlen nicht mehr.
    Ich hatte mir eingebildet, dass ich wusste, was Träume sind und wie man sie mit Vernunft vertrieb. Die ersten Nächte war es mir noch gelungen, sie mit Distanz zu betrachten, wie flackernde Bilder eines Stummfilms. Aber in der siebten Nacht träumte ich nicht mehr, ich war ! …
    … in meiner Stadt.
    Ich rannte durch endlose Flure, verwirbelte den Duft von Rosenwasser und Räucherwerk. »Ich bin es!«, schrie ich . »Ich bin hier!« Meine Füße waren nackt und schlugen hart auf Marmor. Sand rieselte aus meinem Haar. Andere Geräusche hallten in der Nähe. Schnelle Kinderfüße und Kichern. »Eins, zwei, drei, vier, Sternenzauber, Sonnentier!« Das war ein Kinderreim, an den ich lange nicht gedacht hatte. Aber jetzt war alles wieder da: Der Tag, an dem Tian und ich weggelaufen waren und uns in einem baufälligen Turm versteckt hatten. Er war zugemauert, aber vor Tians Entdeckergeist war kein geheimer Weg und Winkel sicher. Hand in Hand waren wir über ein Dach balanciert und durch die Lücke zwischen zwei Mauersteinen geschlüpft. »… fünf, sechs, sieben, in Tibris frisst man Fliegen«, rief ein kleiner Junge. »Acht, neun, zehn, um Canda ist’s gescheh’n! Hab dich! Gewonnen!« Ein empörter Aufschrei. »Du hast heimlich geschaut!«
    Mit brennender Lunge rannte ich um die Ecke – und da sah ich uns, sechs Jahre alt, zwei Kinder mit glühenden Gesichtern, völlig außer Atem. Tians weiche, sanfte Züge erkannte ich sofort, aber ich hatte vergessen, wie hübsch ich schon als Mädchen gewesen war, wie fröhlich und strahlend – ein einziger Glanz, der alle Herzen eroberte. Und schon damals hatte ich Tian geliebt. Die Augen meiner Kindergestalt leuchteten, als der Junge, der damals noch einen ganzen Kopf kleiner war, sie herumwirbelte. Sie balgten sich und kreischten. Und dann jagten sie den Flur entlang zum nächsten Spiel.
    »Wartet!« Aber natürlich hörten sie mich nicht. Ich war ein Geist aus einer anderen Zeit. Die Kinder entwischten mir, ich sah nur noch wehende lange Mädchenhaare, in denen Spinnweben hingen, um die Ecke verschwinden, hörte immer ferneres Lachen und das Quietschen einer Tür.
    Da war sie schon: Die schweren goldenen Flügel schlossen sich gerade. In letzter Sekunde schlüpfte ich hindurch.
    Es war der Prunkraum.
    Die Kinder waren Vergangenheit. Tian war erwachsen, er saß im Schneidersitz auf dem Bett, mit dem Rücken zu mir. Mit einem Aufschrei stürzte ich zu ihm, kroch über das Prunkbett und umarmte ihn von hinten, schmiegte meine Nase in die Wölbung seines Halses, sog seinen Duft nach Meer und warmer Haut ein, weinte und lachte und wiegte ihn. »Den Sternen sei Dank!«, flüsterte ich. »Ich habe dich gesucht. Wo hattest du dich versteckt?« Er drehte sich um und zog mich in die Arme. Ohne Atem zu holen, fiel ich in seinen Kuss, schmeckte das Salz meiner Tränen und war völlig überwältigt von einer Leidenschaft, die mich verwirrte. Noch nie hatte Tian mich so geküsst, wild und fordernd, fast wütend. Ich sank zurück, Seide raschelte unter mir, und sein warmer Körper schmiegte sich an mich, seine Hand strich über meine Hüfte. Ganz anders , dachte ich benommen. Aber ich umklammerte ihn, fuhr mit den Händen über seinen Rücken, zu seinem Nacken – und griff in glattes, langes Haar. Im Kuss riss ich die Augen auf.
    Es war ein fremder Mann.
    Bevor ich mich losmachen konnte, lösten sich seine Lippen schon von meinen. Ich blickte in ein schmales Gesicht von der strengen, perfekten Schönheit einer Statue. Das schräge Licht brach sich in seinen Augen, grau wie Rauchquarz, aber mit einem Goldschimmer darin. Das glatte, lange Haar hatte den bläulichen Glanz von

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