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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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sind die weitsichtigen Wüstenaugen unserer Vorfahren«, so hatte meine Mutter einmal voller Stolz erklärt. »Wir Morenos blicken stets voraus und wie Vögel im Flug, weiter als die anderen – bis zu den Sternen!«
    Und auch wenn sie nun in ihrem eng sitzenden, modernen Kleid aus grauer Seide vor mir saß, konnte ich sie mir mühelos als Kriegerin aus lang vergangener Zeit vorstellen – eine Ahnin in Ledertracht, die mit Pfeil und Bogen schoss und die Sterne anbetete. Jetzt jagte sie der Wahrheit hinterher. Sie konnte Lügen wittern wie ein Hund die Fährte eines Flüchtenden, das war ihr Talent.
    »Gut, ich glaube dir, Canda. Dann muss es eine andere Ursache geben. Was genau ist in dem Traum passiert? Woran erinnerst du dich? Jedes Detail ist wichtig, also konzentriere dich.«
    Schon jetzt würde dieser Tag der seltsamste in meinem Leben sein. Aber diese Aufforderung ließ mich endgültig daran zweifeln, dass ich aufgewacht war. Meine Mutter, die strengste Richterin der Stadt, wollte etwas über Hirngespinste wissen.
    »Ich erinnere mich kaum. Nur an Eindrücke. Gesichter und Schreie. Als wäre ich in einen Kampf verstrickt. Und als ich aufwachte, da … fühlte ich mich schwach und ich hatte Angst.« Ich schluckte schwer. »Es war albern. Tian geht es gut.«
    Ich hörte nicht auf die leise Stimme in meinem Inneren, die mich fragte, warum dann immer noch die Leere in meiner Brust hallte, im Zwerchfell, in der Kehle. Als bestünde ich dort nur aus Rauch wie ein Geist.
    Rasch senkte ich den Blick. Mein Blick fiel auf Mutters Hände. Sie umklammerten den grauen Schleier so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ich weiß nicht, warum mich diese kleine Geste mehr erschreckte als alle Träume zusammen.
    »Warum … bin ich nicht im Prunkzimmer?«, wiederholte ich meine Frage von vorhin.
    »Weil du heute nicht heiraten wirst.«
    »Was?« Mein Entsetzensschrei brach sich an den Wänden.
    Sie richtete sich noch etwas mehr auf, ein Bild der Beherrschtheit und Strenge. »Die Verbindung wird nicht geschlossen, bis … alles geklärt ist. Wir werden Tians Familie ausrichten, dass du krank geworden bist und dich erst erholen musst.«
    »Nichts muss geklärt werden! Und ich bin nicht krank.«
    »Du hast unsere Entscheidungen nicht infrage zu stellen.«
    »Es ist nicht mehr eure Entscheidung!«, schleuderte ich ihr entgegen. »Sondern die von Tian und mir!«
    »Da irrst du dich. Noch seid ihr nicht verbunden. Und solange du noch unvollständig bist, hast du die Pflicht, uns zu gehorchen.«
    Ich wollte aus dem Bett springen, aber Vida war mit einem Satz bei mir und fasste mich an den Schultern. »Beruhige dich doch«, bat sie mit sanfter Stimme. »Du bist noch zu schwach. Glaub mir, es ist das Beste so.«
    So grob wie ich es von mir selbst nicht kannte, schlug ich Vidas Hand weg und ignorierte dabei den dumpfen Schmerz in meiner linken Seite.
    »Ich gehe zu Tian, wann ich es für richtig halte. Und zwar jetzt!«
    »Du kannst nicht zu ihm.« Meine Mutter räusperte sich und zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich, wie ihre Stimme leicht zitterte.
    »Ist Tian doch etwas zugestoßen?«, flüsterte ich.
    »Nicht ihm «, erwiderte Vida leise. Es schien sie Überwindung zu kosten, mich direkt anzusehen. Sie schluckte dabei und ihre Augen glänzten verdächtig.
    Ich tastete über meine Wangen, meine Stirn, aber ich fand keine Wunde, nicht einmal eine schmerzende Stelle.
    »Schau in den Spiegel«, sagte Mutter. »Und dann entscheide selbst, ob du wirklich zu deinem Bräutigam gehen willst.«
    *
    Das Licht flutete über das Silber in unserem Badezimmer und das Waschbecken aus schwarzem Onyx. Ich schleppte mich zum Wasserhahn. Mit beiden Händen schaufelte ich das Nass in mein glühendes Gesicht. Die Kälte tat unendlich gut. Aufatmend hob ich den Kopf und sah mich an.
    Ich musste mich am Waschbecken festhalten, um nicht zu fallen.
    Von der anderen Seite des Spiegels starrte mich eine Verrückte an. Das palisanderbraune Haar klebte nass und wirr an Stirn und Schultern. Weit aufgerissene Augen glühten in einem fahlen Gesicht und der Mund war vor Schreck aufgeklappt. Die Fremde stolperte zeitgleich mit mir von dem Spiegel weg und verzog den Mund, als würde die hastige Bewegung schmerzen. Die Prellung an meinen Rippen stach.
    »Wer …?«, flüsterte ich, und der Spiegelmund formte sich zu diesem Wort. Und jetzt wurde mir mit einem Schlag klar, wem ich gegenüberstand. Das war eindeutig mein Mund mit dem winzigen sternförmigen

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