Der dunkle Schirm
er wieder aufgelegt hatte. »Bleiben Sie ganz ruhig da sitzen, Bob, Fred, was auch immer. Beruhigen Sie sich, wir haben den Kerl ja geschnappt und er ist wirklich ein – wie haben Sie uns gerade genannt? Dafür hat es sich doch gelohnt, meinen Sie nicht? Ihn zu fangen – egal, in was er nun verwickelt ist, oder nicht?«
»Klar, gelohnt.« Fred konnte kaum noch sprechen, seine Stimme war ein mechanisches Knirschen.
Sie warteten weiter.
Auf der Fahrt zum Neuen Pfad hielt Donna am Straßenrand an, an einer Stelle, wo sie unter sich die Lichter sehen konnten. Aber inzwischen hatte der Schmerz für ihn begonnen, sie konnte das deutlich erkennen, und es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Sie hatte sich so sehr gewünscht, noch einmal mit ihm zusammen zu sein – sie hatte wohl zu lange gewartet. Tränen rannen ihr über die Wangen, als er zu würgen und sich zu übergeben begann.
»Wir bleiben ein paar Minuten hier sitzen«, sagte sie, während sie ihn durch die Büsche führte, über den sandigen Boden, zwischen weggeworfenen Bierdosen und allerlei anderem Müll hindurch. »Ich…«
»Hast du deine Hasch-Pfeife dabei?«, brachte er mühsam heraus.
»Ja.«
Sie mussten sich ziemlich weit von der Straße entfernen, um nicht von der Polizei bemerkt zu werden, weit genug jedenfalls, damit sie die Hasch-Pfeife verschwinden lassen konnten, wenn ein Polizist vorbeikam. Sie würde den Polizeiwagen anhalten sehen, ein Stück entfernt, mit ausgeschalteten Scheinwerfern, und die Beamten, die sich zu Fuß näherten. Es würde genügend Zeit sein.
Sie dachte: Dafür jedenfalls. Zeit genug, um sicher vor dem Gesetz zu sein. Aber Bob Arctor hatte keine Zeit mehr. Jedenfalls keine Zeit mehr nach menschlichen Maßstäben – die war abgelaufen. Es war eine andere Art von Zeit, in die er jetzt eingetreten war. Ähnlich der Zeit, die eine Ratte hat: Zeit, sich ziellos hin und her zu bewegen, nutzlos zu sein. Doch zumindest kann er noch die Lichter unter uns sehen. Obwohl ihm das vielleicht nichts mehr bedeutet.
Sie fanden einen geschützten Platz und Donna zog den in Alufolie eingewickelten Klumpen Hasch hervor und zündete die Pfeife an. Arctor, der neben ihr hockte, schien es nicht einmal zu bemerken. Er hatte sich beschmutzt, aber sie wusste, dass er nichts dafür konnte, ja sich dessen vielleicht nicht einmal bewusst war. Während des Entzugs wurden sie alle so.
»Hier.« Sie beugte sich zu ihm hinüber, um ihn aufzuladen. Doch er bemerkte auch das nicht. Er saß einfach nur da, völlig weggetreten, von Magenkrämpfen geschüttelt, kotzte und beschmutzte sich, zitterte und wimmerte wie wahnsinnig vor sich hin. Es klang beinahe wie eine Art Lied.
Plötzlich musste sie an einen Typen denken, den sie einmal kannte – einen Typen, der Gott gesehen hatte. Er hatte sich ganz ähnlich verhalten, gewimmert und geweint, ohne sich allerdings selbst zu beschmutzen. Er hatte Gott während eines Flashbacks nach einem Acid-Trip gesehen, zu einer Zeit, da er mit riesigen Dosen wasserlöslicher Vitamine experimentierte. Ihre orthomolekulare Struktur sollte angeblich die neuralen Impulse im Gehirn anregen, beschleunigen und synchronisieren. Bei ihm jedoch hatten sie anders gewirkt, er war nicht einfach nur smarter geworden – er hatte Gott gesehen. Er war völlig überrascht gewesen.
»Ich glaube«, sagte Donna, »wir wissen nie, was das Schicksal für uns bereithält.«
Arctor stöhnte nur.
»Kanntest du mal einen Typ namens Tony Amsterdam?«
Keine Reaktion.
Donna nahm einen Zug aus der Hasch-Pfeife und versenkte sich in die Lichter, die unter ihnen ausgebreitet waren. Sie roch die Luft und lauschte. »Nachdem er Gott gesehen hatte, fühlte er sich richtig gut, so ungefähr ein Jahr lang. Und dann fühlte er sich richtig mies. Mieser, als er sich je zuvor in seinem Leben gefühlt hatte. Weil er eines Tages schlagartig kapierte, dass er Gott nie wieder sehen würde. Er würde für den Rest seines Lebens – fünfzig Jahre vielleicht – dahinvegetieren und nichts als das sehen, was er schon immer gesehen hatte. Das, was auch wir sehen. Es wäre besser gewesen, er hätte Gott nicht gesehen. Er erzählte mir später mal, dass er da richtig durchgedreht ist – er flippte einfach aus, fing an zu fluchen, zerdepperte alle möglichen Sachen in seinem Apartment. Er schlug sogar seine Stereoanlage in Stücke. Er hatte begriffen, dass er für immer würde leben müssen, wie er jetzt lebte – nämlich ohne etwas zu sehen. Ohne jeden Sinn.
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