Der dunkle Schirm
Werden sie mich trotzdem aufnehmen?«
»Sie werden dich nehmen.«
Es bedarf der größten Weisheit, dachte sie, um zu erkennen, wann man Ungerechtigkeit walten lassen darf. Wie kann die Gerechtigkeit jemals dem zum Opfer fallen, was richtig ist? Wie kann so etwas passieren? Weil auf dieser Welt ein Fluch liegt – und all das hier beweist es. Das hier ist der endgültige Beweis, gerade das hier. Irgendwo, ganz tief unten, ist der Mechanismus, die Konstruktion der Dinge, auseinander gefallen und aus dem, was übrig geblieben ist, hat sich das Bedürfnis gelöst, all die verschiedenen Arten von Falschem zu tun, zu dem der weiseste Ratschluss uns befähigt. Es muss vor tausenden von Jahren begonnen haben. Und jetzt hat es sich in alles eingeschlichen. Und in jeden Einzelnen von uns. Wir können uns nicht umwenden oder unseren Mund öffnen und sprechen, ja nicht einmal eine einzige Entscheidung treffen, ohne das Falsche zu tun. Es interessiert mich nicht, wie es angefangen hat, wann oder warum. Ich hoffe nur, dass es einmal enden wird. Wie bei Tony Amsterdam. Ich hoffe einfach, dass eines Tages der Regen aus hell leuchtenden Funken zurückkehren wird und wir ihn diesmal alle sehen werden. Die schmale Tür, hinter der es Frieden gibt. Eine Statue, das Meer und das, was wie Mondschein aussieht. Und nichts, was sich bewegt, nichts, was die Ruhe stören könnte.
Vor langer, langer Zeit. Vor dem Fluch. Das Goldene Zeitalter, als Weisheit und Gerechtigkeit dasselbe waren. Bevor alles in scharfkantige Splitter zerbarst, in winzig kleine Bruchstücke, die nicht zusammenpassen, die nicht wieder zusammengefügt werden können, so sehr wir uns auch bemühen.
Unter ihr, in der Dunkelheit, zwischen den verstreuten Lichtern der Stadt ertönte eine Polizeisirene. Ein Polizeiwagen, der seiner Beute dicht auf den Fersen war. Es klang wie ein geistesgestörtes Tier, das danach gierte zu töten. Und wusste, dass es bald töten würde. Sie zitterte, die Nachtluft war kalt geworden. Es war Zeit, zu gehen.
Jetzt kann nicht das Goldene Zeitalter sein, dachte sie. Nicht, wenn solche Geräusche aus der Dunkelheit dringen. Geht dieses Geräusch auch von mir aus? Bin ich das? Bin ich das Ding, das sich an seine Beute anschleicht oder schon zum Sprung ansetzt?
Das seine Beute schon erlegt hat?
Der Mann neben ihr regte sich, stöhnte, sie half ihm auf. Half ihm auf die Füße und zurück zum Wagen. Schritt für Schritt, half ihm, half ihm weiterzumachen. Unter ihnen war das Geräusch des Polizeiwagens abrupt verstummt – er hatte seine Beute erlegt. Sein Job war getan. Bob Arctor an sich drückend, dachte Donna: Und meiner auch.
Die beiden Mitarbeiter des Neuen Pfades standen da und musterten das Ding, das vor ihnen auf dem Fußboden lag, das sich erbrach und zitterte, die Arme um sich gelegt, als könne es auf diese Weise die Kälte fern halten.
»Was ist das?«, fragte einer von ihnen.
»Ein Mensch«, erwiderte Donna.
»Substanz T?«
Sie nickte.
»Hat sein Gehirn aufgefressen. Noch so ein Verlierer.«
Donna sah die beiden an. »Es ist leicht zu gewinnen. Jeder kann gewinnen.« Dann beugte sie sich über Robert Arctor und sagte leise: »Leb wohl.«
Sie legten gerade eine alte Armeedecke über ihn, als sie ging. Sie blickte nicht zurück.
Sie stieg in ihren Wagen und fuhr auf den nächsten Freeway, mitten hinein in den dichtesten Verkehr. Aus der Kassettenbox nahm sie Carole Kings ›Tapestry‹ – ihre Lieblingskassette – und legte sie ein; gleichzeitig zerrte sie ihre Ruger-Pistole aus der unter dem Armaturenbrett angebrachten Magnethalterung. Dann hängte sie sich an die Stoßstange eines Lieferwagens, der Holzkästen mit Coca-Cola-Flaschen transportierte, und während Carole King sang, entleerte sie das Magazin der Ruger auf die Coke-Flaschen ein paar Meter vor ihr. Sie schaffte es, vier Flaschen zu treffen. Glassplitter und Coke-Spritzer prasselten auf die Windschutzscheibe ihres Wagens. Jetzt ging es ihr besser.
Gerechtigkeit und Ehrlichkeit und Treue sind keine Eigenschaften dieser Welt, dachte sie. Und dann rammte sie ihren Gegner, ihren Feind von alters her, den Coca-Cola-Lieferwagen, der jedoch einfach weiterfuhr, ohne es zu bemerken. Der Aufprall brachte ihren Wagen ins Schleudern, die Scheinwerfer erloschen, ein Kotflügel kreischte mit einem fürchterlichen Geräusch – und dann war sie plötzlich vom Freeway runter, stand auf dem Randstreifen der Gegenfahrbahn. Wasser strömte aus dem Kühler und Autofahrer
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