Der dunkle Schirm
und fiel um, das Heck des Wagens krachte runter, die Felge und das Rad rollten davon – aber dem Jungen war nichts passiert.
»Zu spät für die Bremse«, keuchte Jerry und versuch-te, sich seine häßlichen, schmierigen Haare aus den Augen zu streichen. Er blinzelte. »Zu knapp.«
»Is’ er okay?« rief Charles Freck. Sein Herz hämmerte immer noch.
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»Ja.« Jerry stand schwer atmend neben dem Jungen.
»Scheiße!« schrie er ihn an, um sich Luft zu machen.
»Hab’ ich dir nicht gesagt, du sollst warten, bis wir’s zusammen machen? Und wenn ein Wagenheber wegrutscht
– Scheiße, Mann, du kannst doch keine fünftausend
Pfund zurückhalten!« Sein Gesicht zuckte. Der Junge, der von allen nur Rattenarsch genannt wurde, blickte ihn wie ein Häufchen Elend an und wand sich schuldbewußt.
»Mensch, ich hab’s dir doch wieder und wieder gesagt!«
»Ich wollte die Bremse treten«, erklärte Charles Freck, der plötzlich begriff, wie idiotisch er sich verhalten hatte, begriff, daß er einen Fehler gemacht hatte, der genauso schwerwiegend und tödlich gewesen war wie der des
Jungen. Er, ein erwachsener Mann, hatte versagt, weil er unfähig gewesen war, richtig zu reagieren. Aber genau wie der Junge suchte er nun nach Worten, um sein Versagen zu rechtfertigen. »Klar, ich seh’ jetzt ein –«, setzte er kläglich an, und dann brach die Phantasie-Nummer ab; eigentlich war sie nur eine exakte Widergabe realer Ereignisse gewesen, denn Charles Freck erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sich dieser Zwischenfall abge-spielt hatte, damals, als sie noch alle zusammenlebten.
Jerrys guter Instinkt … ohne den hätte Rattenarsch eine Sekunde später unter dem Heck des Pontiac gelegen, mit zerschmettertem Rückgrat! Alle drei trotteten in düsterer Stimmung zum Haus zurück, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die Felge und den Reifen einzufangen, die immer noch die Straße hinunterrollten.
»Ich war eingeschlafen«, murmelte Jerry, als sie das abgedunkelte Innere des Hauses betraten. »Zum ersten 35
Mal seit Wochen haben mich die Wanzen lange genug in Ruhe gelassen, daß ich’s geschafft hab’. Ich hab’ seit fünf Tagen keinen Schlaf mehr gekriegt – bin immer nur rumgelaufen und rumgelaufen. Ich hab’ schon gedacht, sie wären vielleicht weg; und sie sind weggegangen, wirklich. Ich hab’ gedacht, sie härten endlich aufgegeben und wären woandershin gegangen, nach nebenan vielleicht, ganz aus dem Haus weg. Jetzt kann ich sie wieder spüren. Der zehnte Anti-Wanzen-Strip, den die mir verkauft haben – oder vielleicht war’s der elfte – die haben mich wieder reingelegt, wie sie’s mit allen anderen gemacht haben.« Aber seine Stimme klang jetzt gedämpft, nicht wütend, sondern nur leise und irgendwie verwun-dert. Er legte seine Hand auf Rattenarschs Kopf und versetzte ihm einen kurzen, scharfen Schlag. »Du blöder Kerl – wenn ein Wagenheber wegrutscht, dann nimm
gefälligst die Beine in die Hand. Vergiß den Wagen. Stell dich bloß nicht hinter ihn, und versuch ja nicht, dich einer solchen Masse entgegenzustemmen und sie mit deinem Körper aufzuhalten.«
»Aber Jerry, ich hatte Angst, daß die Achse …«
»Scheiß was auf die Achse. Scheiß was auf den Wa-
gen. Dein Leben ist doch wichtiger.« Sie gingen durch das dunkle Wohnzimmer, alle drei, und die Vision eines längst vergangenen Augenblicks verschwamm und erlosch dann für immer.
36
II
»Meine sehr verehrten Herrschaften vom Anaheim Lions Club«, sagte der Mann am Mikrophon, »es erfüllt mich mit außerordentlicher Freude, daß wir dank der freundli-chen Genehmigung der Behörden des Orange County
heute nachmittag einen Geheimen Rauschgift-Agenten in unserer Mitte begrüßen dürfen. Nach einem einleitenden Referat unseres Gastes werden wir die einmalige Gelegenheit haben, ihn zu sich und zu seiner Arbeit zu befra-gen.« Oh, wie er strahlte, dieser Mann mit dem rosa Waf-felfiber-Anzug, der gelben Plastikkrawatte, dem blauen Hemd und den Schuhen aus Lederimitat! Ein überge-wichtiger, überalteter Mann, der pausenlos lachte, als sei er überglücklich, auch wenn es wenig oder gar nichts gab, weswegen man glücklich sein konnte.
Der Geheime Rauschgift-Agent beobachtete ihn ange-
ekelt.
»Nun, wie Sie sicherlich bereits bemerkt haben wer-
den«, sagte der Versammlungsleiter, »können Sie dieses Individuum, das hier direkt zu meiner Rechten neben mir sitzt, eigentlich gar nicht richtig sehen, geschweige denn erkennen.
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