Der dunkle Spiegel
jammert: ›Du weißt doch, meine Hand!‹ Nein, nein, Almut. Du hast gute Augen und starke Hände. Darauf kommt es an.«
Almut schaute auf ihre Hände. Sie waren zwar sauber geschrubbt, aber hart und schwielig, und die Fingernägel waren an vielen Stellen eingerissen.
»Wenn du meinst… Weißt du, du könntest etwas von dem Hustenmittel nehmen. Du hast gesagt, es wirkt betäubend.«
»Na ja, das schon. Aber ich habe etwas, das besser geeignet ist.«
Elsa wuchtete sich aus ihrem Stuhl und suchte in den Regalen nach dem, was ihr vorschwebte. Inzwischen hatte Trine eine Schüssel mit Wasser und einen Becher geholt und kramte jetzt in einer Lade herum. Die Zange, die sie dann stolz präsentierte, war schmutzverkrustet und voller Spinnweben.
»Schon lange nicht mehr in Gebrauch gewesen, was? Mach sie sauber, Trine.«
Als Trine zurückkam, kaute Elsa auf einem unangenehm riechenden Pflanzenblatt, das sie schließlich ausspuckte. Angewidert verzog sie den Mund, soweit das noch möglich war.
»Das Kraut der heiligen Apollonia – Bilsenkraut!«
»Ist das nicht gefährlich?«
»Wenn man es ausspuckt, nicht. Es betäubt den Mund innen.«
Trine trat näher und streckte fragend die Hand nach Elsa aus.
»Nur zu, Kind. Was willst du?«
Vorsichtig strich das Mädchen über die geschwollene Wange und ließ dann ihre Hand auf dem Unterkiefer liegen. Ganz still stand sie und hielt die Augen geschlossen. Elsa ließ es sich zunächst ruhig gefallen, doch dann zeigte ihr Gesicht mehr und mehr Erstaunen. Als Trine schließlich die Hand zurückzog, flüsterte sie: »Sie hat Zauberhände, Almut. Es schmerzt fast nicht mehr.«
Mit ein paar Gesten deutete Trine an, dass Almut Elsas Kopf festhalten solle, während sie den Zahn ziehen wollte.
»Sie scheint es sich zuzutrauen, Elsa. Sie hat dem Zahnreißer sehr genau zugesehen. Bist du einverstanden.«
»Macht doch, was ihr wollt. Aber macht schnell!«
So kam es, dass Almut hinter Elsa stand, ihren Hinterkopf an ihre Brust gedrückt hielt, wobei sie Stirn und Unterkiefer mit festem Griff hielt, und Trine sich des morschen Backenzahns annahm. Sie war wirklich geschickt, denn mit einem gezielten Stoß lockerte sie den faulen Zahn und zog ihn dann mit einem schnellen und energischen Ruck heraus. Sofort griff Almut nach dem Becher mit verdünntem Wein und reichte ihn der verdutzten Elsa.
»Gut gemacht, Trine«, sagte sie zu dem Mädchen und strich ihr lobend über die Haare. »Und jetzt bringen wir sie am besten zu Bett.«
Am Abend dieses Sonntags kniete Almut lange in ihrer Kammer vor der kleinen Statue der Mutter Gottes und betete. Wie jedes Mal, wenn sie diese stille Zwiesprache hielt, begann sie mit ihrem von Herzen kommenden Dank dafür, nun schon seit vier Jahren dieses friedvolle Leben in der Gemeinschaft der elf anderen Beginen führen zu können.
Obwohl von unterschiedlichster Herkunft und Bildung, funktionierte das Zusammenleben der zwölf Frauen verhältnismäßig reibungslos. Das mochte daran liegen, dass sie sich alle freiwillig zu diesem Leben entschieden hatten. Sie hatten nicht den strengen Regeln eines Klosters zu gehorchen, dessen Gelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam verlangte, sondern hatten sich – in Anlehnung an Klosterregeln – eigene Statuten gegeben. Solange sie dem Konvent angehörten, mussten sie auf den Umgang mit Männern verzichten, doch es stand den Beginen frei, zu heiraten. Sie lebten zwar in Bescheidenheit, trugen einheitliche, schlichte graue Tracht ohne Schmuck und aus einfachen Stoffen, doch auf eine gewisse Bequemlichkeit brauchten sie nicht zu verzichten. Sie besuchten die Gottesdienste, befolgten aber ansonsten keine geregelten Gebetszeiten. Jede besaß ihre eigene, einfach eingerichtete Kammer, das Essen war schmackhaft und gut zubereitet, vier Mägde kamen morgens, um die groben Hausarbeiten zu verrichten, und sofern eine Frau eigenes Geld, Grundbesitz oder sonstiges Vermögen besaß, blieb es in ihrer Verfügungsgewalt.
Auch wenn sie dem Glanz des gesellschaftlichen Lebens entsagt hatte, erschien Almut das disziplinierte, arbeitsame und bescheidene Leben um vieles besser als jenes, das sie zuvor geführt hatte. Nachdem sie ihren Dank dafür abgestattet hatte, betete sie auch für die Kranken, Elsa natürlich, aber auch für den jungen Mann, der jetzt hoffentlich seiner Genesung entgegenschlummerte.
3. Kapitel
Wieder schlich zu nächtlicher Stunde ein Vermummter durch die verlassenen Gassen zum Lagerhaus, schloss vorsichtig das
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