Der dunkle Thron
nicht.
Waringham zumindest war sicher.
»Madog …«
»Hm?«
»Wirst du mir einen Gefallen tun?«
»Vermutlich nicht. Du hast mir die Nase blutig geschlagen und warst obendrein stärker und vor allem schneller als ich. So was fördert nie meine Hilfsbereitschaft.«
Nick grinste geisterhaft. »Ich werde dich dennoch bitten.«
»Was willst du?«, knurrte sein Cousin. »Wage ja nicht, mich zu bitten, Polly und Eleanor nach Waringham zu bringen und dann zu verschwinden. Du bist hier nicht der einzige mit einem Funken Ehre im Leib, verstehst du? Auch wenn die ganze Geschichte vermutlich kein gutes Ende nehmen kann, stecken wir jetzt zusammen in dieser Klemme, und wir werden es auch zusammen zu Ende führen. Ist das klar?«
»Völlig.«
»Also?«
Nick war um eine Antwort verlegen, denn Madog hatte mitten ins Schwarze getroffen mit seinem Verdacht, und Nick fürchtete, wenn er sein Anliegen trotzdem vortrüge, würden sie wieder mit den Fäusten aufeinander losgehen. Mit einem hilflosen Achselzucken antwortete er: »Holst du uns noch einen Krug Bier?«
London, Juli 1535
»Seid so gut und helft mir hinauf, Lieutenant«, bat Sir Thomas More liebenswürdig. »Hinunter komme ich wohl allein …«
Hier und da lachte jemand über den makabren Scherz, aber die meisten der Zuschauer blieben stumm. Viele waren nicht gekommen – kaum genügend, um sich gefahrlos zwischen ihnen zu verbergen, wusste Nick.
Der Offizier der Tower-Wache reichte Sir Thomas den Arm, und langsam erklommen sie gemeinsam die steile Holztreppe zu der erhöhten Richtstätte auf dem Tower Hill. Es war der 6. Juli, aber schon seit dem Vorabend fiel ein unablässiger, lautloser Regen. Der Himmel über London sah aus wie ein bleigraues Leichentuch, und die Luft war eigentümlich still und kalt.
Oben angekommen, musste Sir Thomas sich noch einen Moment länger auf den Arm des Lieutenant stützen. Die fünfzehn Monate seiner Haft im Tower hatten einen Greis aus ihm gemacht. Er war magerer und gebeugter als früher, das Haar war schütter geworden, und der unordentliche Bart, der ihm bis auf die Brust reichte, war weiß.
Sir William Kingston, der Constable des Tower, machte ein Gesicht, als sei dies seine eigene Hinrichtung. Sprachlos legte er dem Delinquenten für einen Moment die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. Dann trat er hinter ihn und band ihm mit einem dicken Strick lose die Hände auf den Rücken.
»Habt Ihr …« Er musste sich räuspern. »Habt Ihr noch etwas zu sagen, Sir Thomas?«
Der schien sich die Frage in aller Seelenruhe durch den Kopf gehen zu lassen. Der unverändert scharfe Blick der dunklen Augen glitt über die vielleicht hundert Menschen, die sich versammelt hatten, um in seiner letzten Stunde bei ihm zu sein. Die blutgierigen Gaffer, die sonst in so großer Zahl zu Hinrichtungen strömten, waren einfach ausgeblieben, beinah als hätten sie sich abgesprochen und darauf verständigt, dass es ratsamer sei, in Deckung zu bleiben, da Gott heute gewiss im Zorn auf London blickte.
Nick stand in der zweiten Reihe ein Stück zur Linken, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, den Kopf gesenkt, und konnte die Augen nicht von seinem einstigen Mentor abwenden. Nein, dachte er, er wird nichts mehr sagen. Er ist schon nicht mehr von dieser Welt …
Doch er hatte sich getäuscht. Sir Thomas More war sein Leben lang ein eloquenter Streiter für seine Überzeugungen gewesen und blieb es bis zum Schluss: »Ich bin ein treuer und ergebener Untertan des Königs und bete jeden Tag für ihn, für die Seinen und sein ganzes Reich. Ich tue niemandem Übles, sage über niemanden Übles und denke nichts Übles, sondern wünsche jedem nur Gutes. Und wenn das nicht genügt, um einen Mann in Redlichkeit am Leben zu erhalten, wahrlich, dann verlangt es mich nicht, am Leben zu bleiben.«
Er trat an den Block.
Unter der Ledermaske des Scharfrichters rannen Tränen hervor, und das stopplige Kinn bebte. »Vergebt Ihr mir?«
Thomas More blickte ihn an und nickte. »Von Herzen.« Steif, aber ohne Hilfe in Anspruch zu nehmen, kniete er nieder und legte den Kopf auf den Block. Dann besann er sich, hob ihn noch einmal und beugte sich ein wenig vor, sodass der lange Bart vorn über den Block baumelte. »Lassen wir ihn heil«, murmelte er dem Henker zu. »Der Bart hat sich ja nicht des Verrats schuldig gemacht …«
Die schmale, große Frauengestalt vor Nick, die ihr Gesicht ebenso in einer Kapuze verhüllt hatte wie er, gab einen
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