Der dunkle Thron
um. Die kleine Zuschauerschar begann bereits, sich zu zerstreuen.
»Vergebt mir …« Mit hängenden Armen stand Meg Roper vor ihm und zitterte am ganzen Leib. Jetzt waren ihre Lippen blau. Sie stand unter Schock. »Ich kann jetzt nicht … meine Kinder … meine Stiefmutter …«
»In Ordnung. Kommt. Ich weiß einen sicheren Ort, wo wir unterschlüpfen können.« Er nahm ihren Arm und führte sie zum Fluss. Mit einem Pfiff winkte er ein Wherry heran, ließ sich mit Lady Meg über den Fluss setzen und klopfte wenig später an die Tür des bescheidenen Pfarrhauses von St. Mathew in Southwark.
Vater Anthony öffnete, betrachtete den im Schatten der Kapuze nahezu vermummten, großen Mann einen Moment mit verengten Augen, trat dann wortlos zurück und hielt ihnen die Tür auf.
Erst als er sie geschlossen und verriegelt hatte, sagte er: »Ihr stellt Gottes Nachsicht auf eine harte Probe, scheint mir, Mylord.«
Nick streifte die Kapuze zurück. Auch seine Hände bebten. »Er würde Euch gewiss recht geben.«
»Wieso in aller Welt wagt Ihr Euch nach London?«
»Dies ist Lady Margaret Roper, Vater. Sir Thomas Mores Tochter. Ihr könnt Euch sicher denken, woher wir kommen.«
Vater Anthony bekreuzigte sich, trat an den Schrank neben seinem Herd und holte einen Krug Wein. Er schenkte ein und schob Lady Meg den ersten Becher zu. »Hier, Madam. Und nehmt Platz. Wenn Ihr wünscht und es Euch Trost spendet, gehen wir in meine Kirche und halten eine Messe für Euren Vater, aber zuerst müsst Ihr etwas trinken. Er würde gewiss nicht wollen, dass Ihr Euch krank macht vor Kummer und Elend.«
Seine gütige Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht. Genau wie einst Nick fand auch Lady Meg sich ein wenig getröstet, sodass die Starre ihrer Glieder sich löste und sie den Becher ergreifen konnte.
»Ich werde nie verstehen, wie es überhaupt so weit kommen konnte«, murmelte der Priester kopfschüttelnd.
Lady Meg erklärte es ihnen, als sie aus der Kirche zurückkamen.
Während der gesamten Dauer seiner Haft hatte Thomas More an seinem Stillschweigen festgehalten. Weder zum Thronfolgegesetz noch zur Suprematsakte hatte er sich in seinen Verhören einen Kommentar entlocken lassen, denn Stillschweigen – das wussten auch Cromwell und der König – bedeutete vor dem Gesetz Zustimmung. Also konnte niemand Sir Thomas Opposition gegen den Willen des Königs oder Ungehorsam wider die Krone vorwerfen, solange er nur schwieg. Doch seine Weigerung, den Eid auf die Suprematsakte zu schwören, erfüllte nach der neuen Rechtslage den Tatbestand des Verrats, und so hatte Cromwell endlich die Handhabe, ihn vor Gericht zu stellen. Am 1. Juli hatte der Prozess begonnen, und schon am Mittag des ersten Tages zeichnete sich ab, dass er zu einer spektakulären Niederlage für Cromwell werden würde, denn Sir Thomas galt nicht zu Unrecht als der beste Rechtsgelehrte des Landes. Seine Ankläger tappten in jede rhetorische Falle, die er ihnen stellte. Bis sie Sir Richard Rich als Zeugen aufriefen.
»Richard Rich?«, unterbrach Nick verwundert.
»Ihr erinnert Euch an ihn?«, fragte Lady Meg.
Er überlegte einen Moment und nickte dann. »Er war früher gelegentlich im Haus Eures Vaters in Chelsea. Ein dürres Männlein in schäbigen Kleidern. Mir schien er meistens betrunken, und ich habe nie verstanden, welche Verbindung er zu Sir Thomas hatte.«
»Eigentlich gar keine«, gab sie zurück und zog fröstelnd die Schultern hoch. »Sie stammten aus derselben Pfarre in London, aber natürlich war Vater zwanzig Jahre älter. Als Rich vom Studium in Cambridge zurückkehrte, trat er dem Rechtskollegium im Middle Temple bei, aber ehrliche Arbeit war wohl nie das, was er wollte. Er war immer auf der Suche nach einem mächtigen Förderer und lukrativen Posten. Vater hat ihn mehrmals abgewiesen, weil er ihn für unredlich und korrupt hielt. Aber Rich fand seinen Förderer schließlich. Zuerst in Audley, der nach Vater Lord Chancellor wurde, und dann …«
»Cromwell«, tippte Nick bitter.
Sie nickte. »Rich hat die Klage sowohl gegen Bischof Fisher wie auch gegen Vater vorbereitet, und als er in den Zeugenstand gerufen wurde, hat er behauptet, Vater hätte in seinem Verhör am 12. Juni gesagt, der König könne und dürfe niemals Oberhaupt der Kirche sein.«
Es war einen Moment still. Dann bemerkte Nick kopfschüttelnd: »Das war zweifellos, was Euer Vater dachte. Aber warum sollte er nach so langer Zeit sein Schweigen brechen und ausgerechnet dieser
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