Der dunkle Thron
meint dennoch, das moralische Recht stehe auf Eurer Seite? Ich hoffe, Ihr werdet mir nachsehen, dass ich Euch nicht ganz folgen kann.«
»Ich hoffe, Ihr werdet mir nachsehen, dass mir heute Nacht nicht der Sinn danach steht, mit Euch über Recht und Unrecht zu disputieren, Madam.«
»Ich bestehe darauf«, beharrte sie. »Ich befehle es als Eure Königin.« Ihr Lächeln konnte ihn nicht täuschen; sie kochte vor Wut.
Nick musste feststellen, dass er sich vor dieser Frau und ihrem Zorn weit mehr fürchtete als vor Lord Shelton und seinen Finstermännern. Shelton war ein Gegner, den er verstehen und den er ausloten konnte. Aber Anne Boleyn war ihm ein Rätsel. Ihre kleinliche Gehässigkeit Mary gegenüber, ihre Geltungssucht und Machtgier, der Zauber, den sie offenbar immer noch auf den König ausübte – nichts von alldem konnte er begreifen. Darum fürchtete er sie. Und weil er sie fürchtete, hasste er sie.
»Die Königin befindet sich in Kimbolton, Madam«, antwortete er. »Ihr seid ein Nichts. Schlimmer, Ihr seid eine Farce: eine Bruthenne mit einer gestohlenen Krone auf dem Kopf. Ihr behängt Euch mit Juwelen, um es zu vertuschen, aber im Grunde wisst Ihr es selbst. Denn welchen anderen Grund könnte es geben, warum Gott Euch immer noch keinen Prinzen geschenkt hat?«
Anne Boleyn war eine Frau der Tat, die es auch deswegen dorthin gebracht hatte, wo sie war, weil sie in der Lage war, kühn und entschlossen zu handeln.
Während alle anderen Nick anstarrten, als wäre ihm ein Geweih gewachsen, riss sie dem linken Wachmann die Hakenbüchse aus den erschlafften Fingern und richtete den Lauf auf Nicks Brust. »Ich denke, von Euch habe ich für alle Zeiten genug gehört, Waringham.« Sie hielt die schwere, unhandliche Waffe mit erstaunlicher Mühelosigkeit.
»Nein, tut das nicht, Majestät«, bat Lord Shelton erschrocken. »Nicht ehe wir wissen, wer seine Komplizen sind. Und er muss vor ein ordentliches Gericht gestellt …«
»Wozu?«, fragte die Königin und drückte ab.
Das Donnern des explodierenden Schwarzpulvers in dem geschlossenen Raum war unfassbar. Nick lag am Boden und dachte, dass er noch nie im Leben etwas so Lautes gehört hatte. Für ein paar Augenblicke war er vollkommen überwältigt von dem Getöse, dem beizenden Pulvergestank und dem dumpfen Pfeifen in seinen Ohren, sodass er erst mit einiger Verspätung auf die Idee kam, sich zu fragen, wieso er noch lebte.
Als er sich auf die Seite wälzte, setzte der Schmerz ein, und er biss hart die Zähne zusammen. Getötet hatte die teuflische kleine Bleikugel ihn nicht – jedenfalls noch nicht –, aber sie hatte ihn auch nicht verfehlt. Auf dem linken Hosenbein war ein Blutfleck, der sich mit erschreckender Schnelligkeit ausbreitete.
Nick war nicht der einzige, den es von den Füßen gerissen hatte, stellte er fest. Keine zehn Schritt von ihm entfernt lagen Anne Boleyn und Brechnuss in einem Wirrwarr aus Röcken, Armen und Köpfen.
»Jesus, Maria und Josef!« Lord Shelton kniete besorgt an ihrer Seite. »Majestät … Seid Ihr verletzt? O Gott, was wird der König sagen, wenn er hört …«
»Hört auf zu jammern, Cousin«, ächzte die Königin und richtete sich auf. »Mir ist nichts geschehen. Der Rückstoß dieser Büchse würde auch einen Ochsen umreißen.« Sie ergriff seine dargebotene Hand und ließ sich auf die Füße helfen.
Sie redet, als schieße sie jeden Tag mit so einem Teufelsding, dachte Nick. Aber wenn es mein Herz war, das sie treffen wollte, muss sie noch viel üben.
Die Königin hatte indes ihre eigene Erklärung für ihren Mangel an Treffsicherheit. Sie wirbelte zu Brechnuss herum, die ebenfalls aufgestanden war. »Warum habt Ihr das getan?«
»Was?«, fragte Louise ein wenig benommen.
»Ihr seid mir in den Arm gefallen!«
»Ich …« Sie strich sich mit bebenden Fingern eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr, die sich gelöst hatte, und ihr Blick glitt für einen Moment verstohlen in Nicks Richtung. »Ich weiß es nicht, Majestät. Vergebt mir. Ich war … erschrocken.«
Anne Boleyn schnaubte.
Und Nick fuhr durch den Kopf, dass seine Stiefschwester wirklich der letzte Mensch auf der Welt war, dem er sein Leben zu verdanken haben wollte. Aber so, wie sein Bein blutete, würde diese Schuld ihn vermutlich nicht lange quälen.
»Vielleicht ist es besser so, Majestät«, meldete George Elland sich schüchtern zu Wort.
»Was soll das heißen?«, fragte Lord Shelton.
Der junge Wachmann zeigte mit dem Finger auf
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