Der dunkle Thron
paar Tagen.« Sie schluckte, dann sah sie ihn an. Die großen dunklen Augen wirkten stumpf, beinah leblos. Nick hatte gelernt, dass das bei vielen verstörten Kindern der Fall war.
»Was ist passiert?«
Edith bohrte den großen Zeh ins Gras und sah auf ihre nackten Füße hinab. »Zwei Gentlemen haben gesagt, sie geben ihm einen halben Schilling, wenn er mit ihnen zum Fluss runter geht. Da hab ich ihn dann am nächsten Morgen gefunden. Er hatte gar nichts mehr an. Und er war ganz steif und kalt.«
Nick wandte den Kopf ab und schloss einen Moment die Augen. Dann sagte er leise: »Geh in die hintere Hälfte der Kirche, Edith. Warte dort.« Er richtete sich wieder auf.
Edith betrachtete den Earl of Waringham abschätzig und mit einer gehörigen Portion Argwohn. Offenbar hatte sie ihre Lektion gelernt. »Was soll ich in der Kirche?«
»Der Teil dort hinten ist die Mädchenschule. Da triffst du deine neuen Kameradinnen. Master Gerard oder Master Ingram oder ich kommen gleich nach und machen dich mit den anderen bekannt.«
Sie machte große Augen. »Ich darf … hierbleiben?«
»Schsch«, warnte er und sah sich kurz um. Es war nicht das erste Mal, dass ein Platz in der Krippe neu vergeben wurde, ehe der vorherige Inhaber aus dem Haus war. Aber jedes der Kinder hier im Hof hatte diesen Platz so nötig wie Edith, und er wollte einen Aufstand seiner kleinen Gäste nach Möglichkeit vermeiden. »Geh«, drängte er leise.
Sie glitt unauffällig Richtung Kirche.
Ausnahmsweise schien das Brot heute für alle zu reichen, und als der Strom hungriger Kinder zu versiegen begann, entdeckte Nick nahe dem Tor eine junge Frau. Sie trug ein dunkles Kleid, dessen Saum sehr staubig war, so als sei sie weit gelaufen. Ein wenig unsicher sah sie sich im Hof um, ging dann langsam zu Orsino hinüber und legte ihm die Hand auf die Nüstern.
»Es tut mir leid, Madam, aber hier bekommen nur Kinder Almosen«, sagte Nick und trat auf sie zu.
Es war eine eiserne Regel in der Krippe, die oft nur schwer zu rechtfertigen war. Aber so wie die Kleinen vor den Halbstarken, musste man die Kinder insgesamt vor den hungrigen Erwachsenen beschützen.
»Dann ist es ja eine glückliche Fügung, dass ich nicht gekommen bin, um zu betteln, Sir«, antwortete sie. Ihr Akzent verriet, dass sie aus dem Norden stammte, und klang für Londoner Ohren drollig, was den hochmütigen Tonfall indes nicht milderte. »Ich möchte zu Lord Waringham«, ließ sie ihn wissen.
Sie war Anfang zwanzig, schätzte er. Ihr Haar hatte die Farbe von dunklem Honig, und sie trug es streng geflochten und im Nacken aufgesteckt. Das Gesicht war zart, die Nase gerade und schmal, die Lippen hingegen voll. Doch das Ungewöhnlichste an diesem Gesicht waren die Augen. Groß und von einem klaren, hellen Blau. Man hätte darin versinken können, wäre der Ausdruck nicht so feindselig gewesen.
»Und was wünscht Ihr von ihm, Madam?«, erkundigte er sich höflich.
»Das sage ich ihm selbst, Master …?«
»Fitzgervais. Nicholas Fitzgervais.« Es war der Nachname, den sein Vater und all seine Vorfahren benutzt hatten, wenn sie gelegentlich einen brauchten – etwa für die Unterzeichnung eines rechtsverbindlichen Dokuments –, und Nick hatte ihn für ebensolche Zwecke übernommen. »Wen darf ich melden?«
Ehe sie antworten konnte, trat Meg Roper zu ihnen und machte seine Verstellung unwissentlich zunichte: »Liz ist bereit und wartet auf Euch, Mylord.« Sie nickte der Fremden freundlich zu.
»Danke, Lady Meg«, antwortete Nick ergeben. »Ich habe ihren Platz der kleinen Edith gegeben. Sie hat ihren Bruder verloren. Allein hat sie dort draußen keine Chance.«
»Ach, das arme Kind«, murmelte Meg Roper bedrückt. »Wo ist sie?«
»In der Mädchenklasse.«
Lady Meg machte auf dem Absatz kehrt. »Ich kümmere mich darum.«
Nick schaute ihr einen Moment nach, ehe er sich seiner Besucherin wieder zuwandte, die ihn erwartungsgemäß mit einem missfälligen Stirnrunzeln bedachte. Ihr Blick glitt zu dem Siegelring an seinem linken Zeigefinger, dann zurück zu seinem Gesicht. »Wieso verleugnet Ihr, wer Ihr seid? Schämt Ihr Euch Eures Namens?«, fragte sie scharf.
Nick fand sie anmaßend. »Ich habe festgestellt, dass es oft hilfreich ist, wenn Master Fitzgervais Bittsteller anhört, ehe er entscheidet, ob Lord Waringham zu sprechen ist.«
Sie stieß die Luft durch die kleine Nase aus – ein verhaltenes, vornehmes Schnauben der Geringschätzung. »Mein Name ist Janis Finley. Mein
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