Der dunkle Thron
neben dem Tor. Zu seiner Linken stand ein langgezogenes Fachwerkgebäude, welches einst die Fratres beherbergt hatte. Gegenüber dem Tor lagen Küchenhaus und Wirtschaftsgebäude. Aber Nick wandte sich nach rechts, wo sich das bescheidene Bauwerk erhob, welches einmal die Kirche gewesen und jetzt das Schulhaus war.
Er war noch einige Schritte von der ausgeblichenen Holztür entfernt, als er einen Chor junger Stimmen vorlesen hörte: »Und so kam Maria, die Mutter und Jungfrau, zu Elisabeth, die Zacharias’ Weib war, und die da sagte: Gesegnet seiest du, Base, und gesegnet sei die Frucht deines Leibes …«
Nick hielt einen Moment inne und lauschte den Worten aus der neuen Fibel, die vor zwei Jahren endlich genehmigt und gedruckt worden war und von der er für teures Geld zwanzig Exemplare angeschafft hatte – in der Hoffnung, dass Cromwell es sich nicht eine Woche später anders überlegen und das harmlose Büchlein für Leseanfänger wegen ketzerischer Inhalte verbieten würde …
»Sehr schön«, hörte er den Lehrer zufrieden sagen. »Und jetzt möchte ich, dass du es uns noch einmal allein vorliest, Jimmy.«
»Was denn, ich, Master Gerard, Sir?«, fragte eine Kinderstimme unglücklich.
»Ich sehe hier keinen Jimmy außer dir …«
Mit einem leisen Lachen drückte Nick die Tür auf, um Jimmy Aufschub zu gewähren. »Gott zum Gruße, Master Gerard, Jungs.«
Das Klassenzimmer war heller, als die Kirche es zuvor gewesen war, weil die bunten Glasfenster herausgebrochen worden waren. Sie hatten weichen müssen, weil sie Heilige abbildeten, und das war jetzt verboten. In der kalten Jahreszeit wurden die leeren Öffnungen mit Holzläden verschlossen, aber jetzt schien die Sonne hindurch und fiel gleißend auf die weiß getünchte Trennwand, die das Kirchlein in zwei Räume teilte. Fünfzehn Knaben im Alter zwischen sechs und vierzehn schnellten von ihren Schulbänken hoch wie Pfeile von der Bogensehne und schmetterten: »Guten Morgen, Mylord!«
Ihr Anblick erfreute sein Herz: Sie waren wohlgenährt und einigermaßen ordentlich gekleidet, hatten das Haar gekämmt, Hände und Gesicht gewaschen und blickten ihm und dem Rest der Welt aus klaren Augen erwartungsvoll entgegen. Einzig Jimmy – der Neue – war noch so mager, nervös und misstrauisch wie ein Straßenköter, denn es war noch keine drei Wochen her, dass Nick ihn in Cheapside aufgelesen hatte.
Lord Waringham schüttelte dem jungen Lehrer – einem einstigen Benediktiner – die Hand. »Vergebt die Störung. Ich wollte Euch nur wissen lassen, dass ich hier bin.«
Master Gerard nickte. »Ich komme hinüber, sobald ich diese Rasselbande zum Essen schicke, Mylord.«
Nick zwinkerte der »Rasselbande« verstohlen zu, verließ die Klasse, ging ans östliche Ende des Gebäudes, wo eine zweite Tür in die Mauer gebrochen worden war, und lauschte auch dort einen Moment. Hier waren es helle Mädchenstimmen, die aus der Fibel vorlasen. Er trat indes nicht ein, sondern umrundete das Küchenhaus und gelangte auf dessen Rückseite in den kleinen Obst- und Gemüsegarten, wo er eine Frau und zwei junge Mädchen bei der Arbeit antraf.
»Lady Meg … Was in aller Welt tut Ihr da?«
Sie wandte den Kopf und erteilte bereitwillig Auskunft: »Unkraut jäten, Mylord.«
Nick schüttelte den Kopf. »Als ich Euch bat, uns bei der Gründung dieses Hauses zu helfen, war es Eure Erfahrung, die ich wollte, nicht Eure Arbeitskraft.«
Meg Roper richtete sich auf und lächelte ein wenig schuldbewusst. »Ich konnte einfach nicht widerstehen«, gestand sie.
Die beiden Mädchen, deren Hände ebenso erdverschmiert waren wie ihre, knicksten vor ihm.
Er nickte ihnen zu und sagte zu der Größeren: »Liz, ich habe eine Anstellung für dich gefunden. Also geh und pack deine Sachen zusammen und verabschiede dich. Ich habe hier ungefähr zwei Stunden zu tun, dann nehme ich dich mit.«
»Ja, Mylord.« Es klang erstickt. Sie hielt den Kopf gesenkt und fragte nicht, um welche Art Arbeit es sich handelte.
Doch Nick sah die Träne, die auf die kleinen Hände fiel, welche sie vor dem Bauch gefaltet hatte. »Es ist eine anständige Anstellung als Küchenmagd bei sehr vornehmen Leuten. Du wirst es dort gut haben und bekommst eineinhalb Schilling die Woche.«
»Ja, Mylord. Gott segne Euch für Eure Güte.« Sie bemühte sich erfolglos, ihr Schluchzen zu unterdrücken.
»Also, dann geh und mach dich bereit«, sagte er. Er erinnerte sie nicht daran, dass es auf den Straßen ungezählte
Weitere Kostenlose Bücher