Der dunkle Thron
Rechtsgelehrter vermag dieses Durcheinander wohl am besten zu ordnen.«
Nick verbiss sich ein Grinsen. »Ich wette, er ist ganz versessen darauf. Und entzückt davon, dass Ihr seine Dienste so großzügig offeriert …«
Sie lachte. Wenn sie das tat, leuchteten ihre blauen Augen auf, und sie sah aus wie die Meg Roper, die er als Schuljunge insgeheim angehimmelt hatte. Aber heutzutage verschwand dieser Eindruck leider immer sogleich wieder, und zurück blieb eine Frau in den mittleren Jahren, ausgezehrt von zu vielen Schwangerschaften und der Aufopferung für ihre Familie und ihre zahllosen guten Werke und immer noch niedergedrückt vom Schicksal ihres Vaters. Es war nicht so, dass sie ihren Lebensmut verloren hätte. Aber was früher eine helle Flamme gewesen war, glomm heute nur noch.
»Also? Wie stehen wir da?«, fragte er.
»Das weiß ich auch nicht so genau«, musste sie einräumen. »Ich bin heute zum ersten Mal in dieser Woche hier. Die Köchin sagt, die Graupen werden knapp, und wir verbrauchen zu viel Speck.«
Nick unterdrückte ein Seufzen. Einer der Gründe, warum er sich den ganzen Monat noch nicht in der Krippe hatte blicken lassen, war, dass er sich bei jedem Besuch genötigt sah, den gesamten Inhalt seiner Börse hierzulassen. »Ich speise heute bei Master Durham. Er ist es, der Liz einstellt. Falls ich ihn bei halbwegs guter Laune antreffe, werde ich ihn anbetteln. Ansonsten müssen wir die neuen Lebensmittel selber bezahlen und die Köchin bitten, sparsamer mit dem Speck zu sein.«
»Wenn wir die Rationen verkleinern, werden die Kinder krank, sagt Euer Cousin.«
»Und er hat recht. Ich will auch nicht, dass sie mit knurrendem Magen im Unterricht sitzen, denn dann lernen sie nichts. Ich würde gern mehr Speck auf den Tisch bringen, Lady Meg. Für viel mehr Kinder. Doch ich bin leider kein so reicher Mann wie Nathaniel Durham.«
»Nein, ich weiß.« Sie drückte einen Moment seine Hand. »Und trotzdem tut Ihr all das hier. Mein Vater wäre so stolz auf Euch, Nicholas.«
Verlegen zog er die Hand weg. »Euer Vater hatte die Angewohnheit, jeden besser erscheinen zu lassen, als er in Wahrheit ist. Meine Gründe für all dies hier sind nicht so selbstlos, wie Ihr annehmt.«
Sie nickte, gab aber keinen Kommentar ab. »Jedenfalls ist es ein Glück, dass es schon so warm ist. Die meisten der großen Kinder haben keine Schuhe mehr, die ihnen passen. Vor dem Herbst brauchen sie neue.«
»Dann sollten wir beten, dass der Herr irgendwann vor dem Herbst Schuhe vom Himmel regnen lässt …«
Am frühen Nachmittag endete der Schulunterricht, und die knapp drei Dutzend Kinder begaben sich in das ehemalige Refektorium neben der großen Küche, um die Hauptmahlzeit des Tages einzunehmen. Zur gleichen Zeit öffnete jeden Tag das große Haupttor der Krippe für hungrige Straßenkinder, die hier ein Stück Brot bekamen. In eine Staubwolke gehüllt drängelten sie sich in einer unordentlichen Traube durchs Tor, bissen, kratzten und schubsten, um einen Platz möglichst weit vorn zu ergattern, denn wer hier leer ausging, musste bis zum nächsten Tag weiterhungern.
»Stellt euch ordentlich in zwei Reihen auf!«, brüllte Master Gerard gegen den Radau an. »Das Brot wird erst verteilt, wenn ihr still seid und aufhört zu rangeln und gebetet habt.«
Schlagartig wurden die Kinder still und falteten fromm die Hände. Große Augen in schmuddligen Gesichtern blickten verstohlen und gierig auf die hohen Brotkörbe, die hinter Nick und dem Lehrer aufgestellt waren.
Schließlich begannen Nick und Samuel Gerard mit der Verteilung. Die kleineren Kinder schickten sie zum Verspeisen ihres Brotes ins Schulhaus, die großen mussten bei Wind und Wetter im Hof essen oder das Gelände verlassen. Es war nötig, sie zu trennen, damit die Stärkeren den Schmächtigeren das karge Mahl nicht stahlen. Nick wusste, die meisten waren zu hungrig und verzweifelt, um barmherzig zu sein, und die Heranwachsenden quälte der Hunger am schlimmsten.
»Wo ist Gordon, Edith?«, fragte er ein vielleicht sechsjähriges Mädchen mit verfilzten dunklen Haaren. Er kannte nur die wenigsten der Straßenkinder mit Namen, aber Edith und ihr großer Bruder gehörten zu ihren Stammgästen.
Sie senkte den Kopf und antwortete, aber so leise, dass er sie nicht verstand.
Nick hockte sich vor sie. »Wie bitte?«
Edith riss ihm das Brot aus den Fingern und stopfte es sich in den Mund. »Gestorben«, wiederholte sie kauend.
»Wann?«
»Weiß nicht. Vor ein
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