Der dunkle Thron
sollen wir tun?«
»Warten, bis er ausrückt, Hoheit. Aber nicht zu lange. Wir dürfen nicht riskieren, hier in Framlingham belagert zu werden, denn wir haben nicht genügend Vorräte, und wenn Northumberland Geschütze mitbringt, wird er die Ringmauer binnen kürzester Zeit in Schutt legen. Wir haben keine Wahl, als die offene Schlacht zu suchen, sobald er die Grenze nach Suffolk überschreitet.«
Was ihm die größten Sorgen bereitete, war, dass sie keinen wirklich erfahrenen Truppenkommandanten hatten, vertraute er Madog an, als sie in den Burghof zurückkehrten. »Der Earl of Derby hat sich uns angeschlossen, aber er ist ein alter Mann, und seine Kriegserfahrung rührt aus Zeiten, da Geschütze kaum mehr als steinschleudernde Belagerungsmaschinen waren und Handfeuerwaffen exotische Seltenheiten. Doch Northumberlands Truppen bestehen mehrheitlich aus deutschen und spanischen Söldnern, die hervorragend ausgebildet und bewaffnet sind.«
»Deutsche und spanische Söldner?«, wiederholte Madog. »Und die sollen für einen protestantischen Hurensohn wie Northumberland gegen die Cousine ihres papsttreuen Kaisers ins Feld ziehen?«
Nick hob die Schultern. »Wie gesagt. Es sind Söldner. Ich schätze, sie werden für Northumberland kämpfen, solange er sie bezahlen kann. Sie mögen keinerlei Gesinnung haben, aber dafür haben sie Kampferfahrung. Wir hingegen besitzen Gesinnung im Überfluss, aber viel zu wenig Kampferfahrung. Wir werden wohl herausfinden, was auf dem Schlachtfeld von größerem Nutzen ist, nicht wahr?«
»Oh, komm schon, Nick«, entgegnete sein Cousin zuversichtlich. »Wir ziehen die Schwerter, stellen uns Schulter an Schulter und machen alles nieder, was uns vor die Klinge kommt. Was soll daran so schwierig sein?«
»Ich weiß es nicht«, räumte Nick ein. »Das ist es ja, was ich sage, Madog: Ich habe keine Ahnung. Trotzdem wird mir das Kommando zufallen. Und wenn ich einen Fehler mache, werden wir verlieren und viele gute Männer fallen.« Und wenn ich keinen Fehler mache und wir gewinnen, wird Francis sterben, fügte er in Gedanken hinzu und schauderte.
Madog traktierte ihn mit einem kritischen Blick. »Was du brauchst, Cousin, sind eine anständige Mahlzeit und ein paar Stunden Schlaf.«
Nick hob abwehrend die Linke. »Was ich brauche, Madog, ist die Art von Mut und Gottvertrauen, die Abraham besaß, als er die Klinge gegen seinen eigenen Sohn hob, ohne wissen zu können, dass Gott ihm im letzten Moment Einhalt gebieten würde.«
»Gilbert? Kannst du mich hören?«, fragte John.
Der junge Mann, der zwei hässliche, blutverkrustete Löcher hatte, wo einmal seine Ohren gewesen waren, blickte über die rechte Schulter, obwohl John links hinter ihm stand. Dann nickte er. »Ich kann Euch hören, Doktor, aber ich kann nicht mehr ausmachen, aus welcher Richtung eine Stimme kommt.«
Das war, rein medizinisch betrachtet, eine faszinierende Erkenntnis. Dies also war der Zweck eines Ohrs, erkannte John: nicht das Hören selbst, sondern die Verortung des Gehörten. Doch er verbarg seine wissenschaftliche Neugier und legte dem Jungen einen sauberen Verband an, ehe er ihm einen Becher Wein reichte. »Hier, trink das. Du hast viel Blut verloren, und der Wein hilft dem Körper, neues Blut zu bilden.«
Gilbert trank durstig. Bevor er sich lautstark, zur falschen Zeit und am falschen Ort für Mary Tudors Recht auf den Thron ausgesprochen und der Lord Mayor ihm die Ohren hatte abschneiden lassen, hatte er als Zapfer in einer Schänke gearbeitet, und sein gewaltiger Zug legte den Schluss nah, dass er dort selbst zu seinen besten Kunden gezählt hatte. Die Londoner waren berühmt, wenn nicht gar berüchtigt für ihre Respektlosigkeit und ihre Neigung, unaufgefordert ihre Meinung kundzutun, aber Gilbert Potter war seine Großmäuligkeit gründlich vergangen. Er stellte den Becher ab, stützte den Kopf in die Hände und murmelte: »Jesus am Kreuz, was soll ich nur machen? Was wird jetzt aus mir? Ich werde nie wieder Arbeit finden …«
Einem Strolch ein Ohr abzuschneiden war bei den Ordnungshütern nicht nur beliebt, weil es eine abschreckende Strafe war, sondern weil die Gemeinschaft der Gerechten fortan auf einen Blick erkennen konnte, dass sie es mit einem fragwürdigen Charakter zu tun hatte, dem nicht zu trauen war. Wem beide Ohren fehlten, der erweckte gleich doppelten Argwohn und konnte kaum hoffen, unter anständigen Leuten geduldet zu werden.
»Ich werde dir Arbeit geben«, versprach Philipp
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