Der Dunkle Turm 1 - Schwarz
bestand aus riesigen Sandsteinquadern, die wahrscheinlich gleichmäßig ausgerichtet gewesen waren, als das Rasthaus erbaut wurde, die aber inzwischen zu trunkenen, unebenmäßigen Winkeln verrutscht waren. Die Mauer sah aus, als wäre sie mit seltsamen, mäandernden Hieroglyphen überzogen. An einer Nahtstelle von zwei dieser zickzackförmigen Fugen rann ein dünner Strom Sand herab, als würde sich jemand auf der anderen Seite mit sabbernder, schmerzhafter Anstrengung durchgraben.
Das Stöhnen schwoll an und ab, es wurde lauter, bis der ganze Keller davon erfüllt zu sein schien, ein abstraktes Geräusch stechender Schmerzen und äußerster Anstrengung.
»Komm herauf!« kreischte Jake. »O Jesus, Mister, komm herauf!«
»Geh weg«, sagte der Revolvermann ruhig.
» Komm herauf !« kreischte Jake noch einmal.
Der Revolvermann antwortete nicht. Er griff mit der rechten Hand zum Gurt.
Jetzt war ein Loch in der Mauer; ein Loch, das so groß wie eine Münze war. Er konnte durch den Vorhang seines eigenen Entsetzens Jakes stampfende Füße hören, als der Junge weglief. Dann versiegte das Rieseln des Sandes. Das Stöhnen hörte auf, dafür konnte man das Geräusch unablässigen, keuchenden Atmens vernehmen.
»Wer bist du?« fragte der Revolvermann. Keine Antwort.
Dann nahm seine Stimme den alten donnernden Befehlston an, und Roland verlangte in der Hochsprache zu wissen: »Wer bist du, Dämon? Sprich, wenn du sprechen willst. Meine Zeit ist knapp; meine Hände werden ungeduldig.«
»Mach langsam«, sagte eine schleppende, rauhe Stimme in der Mauer. Der Revolvermann spürte, wie das traumgleiche Entsetzen tiefer und beinahe greifbar wurde. Es war die Stimme von Alice, der Frau, bei der er in der Stadt Tull gewohnt hatte. Aber sie war tot; er hatte sie mit eigenen Augen mit einem Einschußloch zwischen den Augen niedersinken sehen. Abwärts sinkende Fäden schienen vor seinen Augen zu schwimmen. »Sei vorsichtig am Paß, Revolvermann. Solange du mit dem Jungen unterwegs bist, hat der Mann in Schwarz deine Seele in der Tasche.«
»Was meinst du damit? Sprich weiter!«
Aber das Atmen hatte aufgehört.
Der Revolvermann stand einen Augenblick erstarrt da, dann ließ sich eine der großen Spinnen auf seinen Arm herab und krabbelte hektisch zur Schulter hinauf. Er wischte sie mit einem unwillkürlichen Grunzen fort und setzte sich in Bewegung. Er wollte es nicht tun, aber der Brauch war strikt und unübertretbar. Tod von den Toten, wie das alte Sprichwort sagte; nur ein Leichnam darf sprechen. Er ging zu dem Loch und stieß dagegen. Der Sandstein bröckelte an den Rändern ohne Anstrengung ab, und er stieß die Hand durch die Mauer, ohne dabei die Muskeln sonderlich anstrengen zu müssen.
Und berührte etwas Festes mit vorstehenden und verwitterten Erhebungen. Er zog es heraus. Er hielt einen an einem Gelenk verfaulten Kieferknochen in der Hand. Die Zähne standen hierhin und dorthin.
»Nun gut«, sagte er leise. Er schob ihn grob in die Rückentasche und ging zur Leiter zurück, wo er die letzten Dosen linkisch hochtrug. Er ließ die Falltür offen. Die Sonne würde hereinscheinen und die Spinnen töten.
Jake hatte den Stallhof zur Hälfte durchquert und kauerte auf der rissigen, körnigen Kruste. Er schrie, als er den Revolvermann sah, wich einen Schritt zurück und lief dann weinend auf ihn zu. »Ich dachte, es hätte dich erwischt, es hätte dich erwischt, ich dachte…«
»Nein.« Er hielt den Jungen an sich und spürte das Gesicht heiß an seiner Brust, die Hände trocken auf dem Brustkasten. Später dachte er, daß er hier angefangen hatte, den Jungen liebzugewinnen – und natürlich mußte der Mann in Schwarz das alles die ganze Zeit geplant haben.
»War es ein Dämon?« Die Stimme klang erstickt.
»Ja. Ein sprechender Dämon. Wir müssen aber nicht mehr dorthin zurück. Komm mit.«
Sie gingen in den Stall, und der Revolvermann machte aus der Decke, unter der er geschlafen hatte, einen behelfsmäßigen Rucksack – sie war warm und kratzte, aber er hatte nichts anderes. Nachdem er das getan hatte, füllte er die Wasserschläuche an der Pumpe.
»Du trägst einen der Wasserschläuche«, sagte der Revolvermann. »Nimm ihn über die Schultern – wie ein Fakir seine Schlange trägt. Siehst du?«
»Ja.« Der Junge sah voller Verehrung zu ihm auf. Er hob einen der Wasserschläuche auf.
»Zu schwer?«
»Nein. Prima.«
»Sag mir jetzt die Wahrheit. Ich kann dich nicht tragen, wenn du einen Hitzschlag
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