Der Dunkle Turm 1 - Schwarz
Unwissenheit zu Licht und Verantwortung. Die Jungen, die geschlagen worden waren, konnten sich immer nur weiter und weiter zurückziehen. Der Korridor war so glatt und eben wie ein Spielfeld. Er war genau fünfzig Meter lang. Normalerweise drängten sich gespannte Zuschauer und Verwandte an beiden Enden, denn das Ritual wurde für gewöhnlich mit großer Präzision geplant – das übliche Alter war achtzehn (diejenigen, die ihre Prüfung im Alter von fünfundzwanzig Jahren nicht abgelegt hatten, versanken normalerweise in Vergessenheit und wurden Freisassen, weil sie nicht imstande waren, sich dem brutalen Alles-oder-Nichts der Prüfung zu stellen). Aber an diesem Tag waren nur Jamie, Cuthbert, Allen und Thomas anwesend. Sie kauerten mit aufgesperrten Mündern und eindeutig entsetzt am Jungenende.
»Deine Waffe, Dummkopf!« flüsterte Cuthbert gequält. »Du hast deine Waffe vergessen!«
»Ich habe sie«, sagte der Junge abwesend. Er fragte sich am Rande, ob die Kunde von dem hier schon ins Hauptgebäude gedrungen war, zu seiner Mutter – und zu Marten. Sein Vater war auf der Jagd und wurde erst in Wochen zurückerwartet. Er empfand deswegen ein Schuldgefühl, denn bei seinem Vater hätte er Verständnis, wenn nicht Billigung gefunden. »Ist Cort gekommen?«
»Cort ist hier«, ertönte eine Stimme vom anderen Ende des Flurs, und Cort, der ein kurzes Unterhemd trug, trat herein. Ein schweres Lederband zierte seine Stirn, das den Schweiß von den Augen fernhalten sollte. Er hielt einen Stock aus Eisenholz in der Hand, der an einem Ende spitz, am anderen schaufelartig verbreitert und klobig war. Er begann mit der Litanei, die sie alle, die vom blinden Blut ihrer Väter auserwählt worden waren, seit ihrer frühesten Kindheit kannten, als sie sie in Vorbereitung auf den Tag, da sie, mit Glück, zu Männern werden würden, gelernt hatten.
»Bist du mit ernster Absicht hierhergekommen, Junge?«
»Ich bin mit ernster Absicht gekommen, Lehrmeister.«
»Bist du als aus deines Vaters Haus Ausgestoßener gekommen?«
»So bin ich gekommen, Lehrmeister.« Und er würde Ausgestoßener bleiben, bis er Cort besiegt hätte. Besiegte Cort ihn, würde er für immer Ausgestoßener bleiben.
»Bist du mit deiner erwählten Waffe gekommen?«
»So bin ich gekommen, Lehrmeister.«
»Welches ist deine Waffe?« Das war der Vorteil des Lehrmeisters, seine Möglichkeit, die Kampfesweise der Schlinge, dem Speer oder dem Netz anzupassen.
»Meine Waffe ist David, Lehrer.«
Cort hielt kurz inne.
»Du forderst mich also heraus?«
»Das tue ich.«
»Dann sei geschwind.«
Und Cort trat in den Korridor, wobei er den Stab von einer Hand in die andere wechselte. Die Jungen seufzten flatternd wie Vögel, während ihr Gefährte ihm entgegentrat.
Meine Waffe ist David, Lehrmeister.
Erinnerte sich Cort? Hatte er es völlig begriffen? Wenn ja, dann war wahrscheinlich alles verloren. Alles hing von der Überraschung ab – und von dem, was der Falke eben noch in sich hatte. Würde er nur desinteressiert auf dem Arm des Jungen sitzen, während Cort ihn mit dem Eisenholz dumm prügelte? Oder zum hohen, heißen Himmel emporfliegen?
Sie näherten sich einander, und der Junge löste die Haube mit gefühllosen Fingern. Sie fiel ins grüne Gras, und der Junge blieb wie angewurzelt stehen. Er sah, wie Cort den Vogel ansah und Überraschung und allmähliche Erkenntnis in seinen Augen dämmerte.
Also dann jetzt.
»Auf ihn!« rief der Junge und hob den Arm.
Und David flog wie eine lautlose braune Kugel los, seine Stummelflügel schlugen einmal, zweimal, dreimal, dann prallte er in Corts Gesicht, sein Schnabel und seine Krallen suchten.
»Hai! Roland!« schrie Cuthbert begeistert.
Cort, der aus dem Gleichgewicht gekommen war, taumelte rückwärts. Er hob den Eisenholzstab und fuchtelte wirkungslos damit in der Luft über seinem Kopf herum. Der Falke war ein entfesseltes, verschwommenes Federbündel.
Der Junge schnellte vorwärts, er streckte den Arm mit angewinkeltem Ellbogengelenk wie einen Keil vor sich.
Trotzdem war Cort beinahe zu schnell für ihn. Der Vogel verdeckte neunzig Prozent seines Sehbereichs, doch das Eisenholz schnellte mit dem flachen Ende zuerst in die Höhe, und Cort vollführte kühn die einzige Tat, welche die Ereignisse an diesem Punkt beeinflussen konnte. Er schlug sich dreimal selbst ins Gesicht, sein Bizeps spannte sich gnadenlos.
David fiel verkrümmt und mit gebrochenen Knochen von ihm ab. Ein Flügel schlug heftig
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