Der Dunkle Turm 1 - Schwarz
hinter der gleichgültigen Maske seiner entstellten Züge mochte Kummer verborgen sein. »Dies ist Verschwendung. Tritt zurück, Junge. Ich breche meinen eigenen Schwur. Tritt zurück und warte!«
Der Junge sagte nichts.
»Nun gut.« Corts Stimme wurde trocken und geschäftsmäßig. »Eine Stunde. Die Waffe deiner Wahl.«
»Bringst du deinen Stock mit?«
»Wie immer.«
»Wie viele Stöcke wurden dir genommen, Cort?« Was auf dasselbe hinauslief wie die Frage: Wie viele Jungen haben den Hof hinter dem Großen Saal betreten und kehrten als Revolvermannlehrlinge zurück?
»Heute wird mir kein Stock genommen werden«, sagte Cort langsam. »Das bedaure ich. Es gibt nur dieses eine Mal, Junge. Die Strafe für Übereifrigkeit ist dieselbe Strafe wie die für Untauglichkeit. Kannst du nicht warten?«
Der Junge dachte an Marten, der groß wie ein Gebirge über ihm gestanden hatte. »Nein.«
»Nun gut. Welche Waffe wählst du?« Der Junge sagte nichts.
Corts Lächeln entblößte eine Reihe schiefer Zähne. »Ein kluger Anfang. In einer Stunde. Dir ist klar, daß du aller Wahrscheinlichkeit die anderen, deinen Vater und diesen Ort nie mehr wiedersehen wirst?«
»Ich weiß, was Verbannung bedeutet«, sagte er leise.
»Geh jetzt.«
Der Junge ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
4
Der Keller der Scheune war trügerisch kühl, feucht, nach Spinnweben und Schwitzwasser riechend. Er wurde vom allgegenwärtigen Sonnenlicht erhellt, spürte die Hitze des Tages jedoch nicht; hier hielt der Junge den Falken, und der Falke schien sich wohl zu fühlen.
David war alt und jagte nicht mehr am Himmel. Sein Gefieder hatte den animalischen Glanz von vor drei Jahren verloren, aber die Augen waren noch so stechend und reglos wie eh und je.
Man kann mit einem Falken keine Freundschaft schließen, sagten sie, es sei denn, man ist selbst ein Falke, allein und nur ein Fremder im Land, ohne Freunde oder das Bedürfnis, welche zu haben. Der Falke zollt der Moral keinen Tribut.
David war jetzt ein alter Falke. Der Junge hoffte (Oder war er zu fantasielos, um zu hoffen? Wußte er es nur?), daß er selbst ein junger war.
»Hai«, sagte er und streckte den Arm zu der an Stricken hängenden Sitzstange aus.
Der Falke kletterte auf den Arm des Jungen und blieb dort reglos und ohne Haube sitzen. Der Junge griff mit der anderen Hand in die Tasche und holte ein Stück Dörrfleisch heraus. Der Falke pickte es heftig aus seinen Fingern und ließ es verschwinden.
Der Junge fing an, David sehr behutsam zu streicheln. Cort hätte es wahrscheinlich auch dann nicht geglaubt, wenn er es gesehen hätte, aber Cort glaubte auch nicht, daß die Zeit des Jungen gekommen war.
»Ich glaube, heute wirst du sterben«, sagte er, ohne mit dem Streicheln aufzuhören. »Ich glaube, du wirst zum Opfer gemacht werden, wie die vielen kleinen Vögel, mit denen wir dich abgerichtet haben. Erinnerst du dich? Nein? Das macht nichts. Nach dem heutigen Tag bin ich der Falke.«
David saß stumm und ohne zu blinzeln auf seinem Arm; es war ihm einerlei, ob er lebte oder starb.
»Du bist alt«, sagte der Junge nachdenklich. »Und vielleicht nicht mein Freund. Noch vor einem Jahr hättest du lieber meine Augen gehabt als dieses Stück Fleisch, ist es nicht so? Cort würde lachen. Aber wenn wir ihm nahe genug kommen… was ist es, Vogel? Alter oder Freundschaft?«
David sagte es nicht.
Der Junge zog ihm die Haube auf und nahm die Leine, die um das Ende von Davids Stange geschlungen war. Sie verließen die Scheune.
5
Der Hof hinter dem Großen Saal war eigentlich überhaupt kein Hof, sondern nur ein grüner Korridor, dessen Mauern von verfilzten, dichten Hecken gebildet wurden. Er wurde schon seit undenklichen Zeiten für das Ritual des Erwachsenwerdens benützt, schon lange vor Cort und dessen Vorgänger, der an dieser Stelle an der von einer übereifrigen Hand herbeigeführten Stichwunde gestorben war. Viele Jungen hatten den Hof am Ostende, wo der Lehrmeister stets eintrat, als Männer wieder verlassen. Das Ostende lag im Angesicht des Großen Saals und all der Zivilisation und der Intrigen der erleuchteten Welt. Viele waren blutig und geschlagen vom Westende fortgekrochen, wo die Jungen stets eintraten, und waren für immer Jungen geblieben. Der Westen lag den Bergen und Hüttenbewohnern zugewandt; dahinter lagen die zugewucherten barbarischen Wälder; dahinter die Wüste. Der Junge, der ein Mann wurde, gelangte von Dunkelheit und
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