Der Dunkle Turm 2 - Drei
unter sie.
»Guter Gott, es ist schön, wenn man sich ausstrecken kann«, seufzte sie. »Aber…« Ihre Stirn umwölkte sich. »Ich denke immerzu an den Mann dort hinten, Roland, ganz allein, und das macht mir wirklich keine Freude. Eddie, wer ist er? Was ist er?« Und fast als Nachgedanken: »Und warum schreit er so oft?«
»Ich schätze, das liegt in seiner Natur«, sagte Eddie und machte sich unvermittelt davon, um Steine zu sammeln. Roland schrie kaum jemals. Er vermutete, einiges stammte von heute morgen – SCHEISS auf die Patronen! –, aber der Rest waren falsche Erinnerungen an die Zeit, die sie Odetta gewesen zu sein glaubte.
Er tötete drei, wie es ihm der Revolvermann aufgetragen hatte, und er konzentrierte sich so sehr auf das dritte, daß er im allerletzten Augenblick vor einem vierten zurücksprang, das sich rechts von ihm angeschlichen hatte. Er sah, wie die Scheren klappernd ins Leere griffen, wo eben noch sein Fuß und das Bein gewesen waren, und er mußte an die fehlenden Finger des Revolvermanns denken.
Er kochte über einem trockenen Holzfeuer – die nahen Hügel und die zunehmende Vegetation vereinfachten die Suche nach brennbarem Material, das war immerhin etwas –, während am westlichen Himmel das letzte Tageslicht erlosch.
»Schau, Eddie!« rief sie und deutete nach oben.
Er sah nach oben und erblickte einen einzigen Stern, der auf der Brust der Nacht leuchtete.
»Ist das nicht wunderschön?«
»Ja«, sagte er, und plötzlich füllten sich seine Augen ohne ersichtlichen Grund mit Tränen. Wo war er eigentlich sein ganzes verdammtes Leben über gewesen? Wo war er gewesen, was hatte er gemacht, wer war bei ihm gewesen und warum fühlte er sich mit einemmal so schmutzig und unendlich beschissen?
Ihr erhobenes Gesicht war schrecklich in seiner Schönheit, in diesem Licht unwiderstehlich, aber diese Schönheit war seiner Besitzerin, die den Stern mit großen Augen betrachtete und leise lachte, unbekannt.
»Sternenglanz, Sternenpracht«, sagte sie und verstummte. Sie sah ihn an. »Kennst du es, Eddie?«
»Ja.« Eddie hielt den Kopf gesenkt. Seine Stimme hörte sich ganz normal an, aber wenn er den Kopf hob, würde sie sehen, daß er weinte.
»Dann hilf mir. Aber du mußt hinsehen.«
»Okay.«
Er wischte die Tränen in eine Handfläche und sah mit ihr zu dem Stern empor.
»Sternenglanz…« Sie sah ihn an, und er stimmte mit ihr ein. »Sternenpracht…«
Sie streckte tastend die Hand aus, und er ergriff sie, eine so köstlich braun wie helle Schokolade, die andere so weiß wie die Brust einer Taube.
»Erster Stern in dieser Nacht«, sagten sie feierlich gemeinsam, vorerst nur Junge und Mädchen, nicht Mann und Frau, wie sie es später sein würden, wenn sich das Dunkel gänzlich herniedergesenkt haben würde und sie ihm zurief, ob er schon schlief, und er nein sagte, und sie ihn bat, er möge sie in den Arm nehmen, weil sie fror. »Ich wünsch mir, was auch passiert…«
Sie sahen einander an, und er stellte fest, daß auch ihr Tränen die Wangen hinabliefen. Seine eigenen quollen wieder, und er ließ sie vor ihr strömen. Es war keine Schande, sondern grenzenlose Erleichterung.
Sie lächelten einander an.
»Daß mein Wunsch erfüllt wird«, sagte Eddie und dachte: Bitte, immer nur du.
»Daß mein Wunsch erfüllt wird«, wiederholte sie und dachte: Wenn ich an diesem seltsamen Ort sterben muß, dann laß es nicht zu schwer werden und diesen guten jungen Mann bei mir sein.
»Tut mir leid, daß ich geweint habe«, sagte sie und wischte sich die Augen ab. »Normalerweise mache ich das nicht, aber es war…«
»Ein sehr anstrengender Tag«, beendete er ihren Satz.
»Ja. Und du mußt essen, Eddie.«
»Du auch.«
»Ich hoffe nur, daß mir nicht wieder übel wird.«
Er lächelte sie an. »Das glaube ich nicht.«
6
Später, als sich fremde Milchstraßen in einer langsamen Gavotte über ihnen drehten, dachten beide, daß der Liebesakt noch nie so schön, so erfüllt gewesen war.
7
Bei Dämmerung brachen sie eiligst wieder auf, und um neun wünschte sich Eddie, er hätte Roland gefragt, was sie tun sollten, wenn sie an die Stelle kamen, wo die Berge den Strand abschnitten und sie immer noch keine Tür gefunden hatten. Das schien eine einigermaßen wichtige Frage zu sein, denn das Ende des Strandes kam zwangsläufig einmal. Die Berge kamen immer näher und verliefen diagonal auf das Wasser zu.
Der Strand selbst war eigentlich überhaupt kein Strand
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