Der Dunkle Turm 2 - Drei
sofort Erschrecken folgte. »Ich gehe nicht weg. Besonders nicht dorthin, wo die großen Krebse – oder was das war Jack gefressen haben.«
Jemand hämmerte gegen die Tür und brüllte, daß man aufmachen sollte.
»Möchtest du hierbleiben und diese Leichen erklären?« fragte der Revolvermann.
»Mir egal«, sagte Eddie. »Ohne Henry ist alles egal. Alles.«
»Dir ist es vielleicht egal«, sagte Roland, »aber es geht auch noch um andere, Gefangener.«
»Nenn mich nicht so!« brüllte Eddie.
»Ich werde dich so lange so nennen, bis du mir bewiesen hast, daß du aus der Zelle herauskommen kannst, in der du dich befindest!« brüllte Roland zurück. Es tat seinem Hals weh, wenn er schrie, aber er schrie trotzdem. »Wirf dieses verwesende Stück Fleisch weg und hör auf zu jammern!«
Eddie sah ihn an, seine Wangen waren naß, die Augen groß und ängstlich.
»DAS IST IHRE LETZTE CHANCE!« sagte eine verstärkte Stimme von draußen. Für Eddie hörte sie sich unheimlich wie die Stimme eines Moderators in einer Quizsendung an. »DAS RÄUMKOMMANDO IST EINGETROFFEN – ICH WIEDERHOLE: DAS RÄUMKOMMANDO IST EINGETROFFEN!«
»Was wartet auf der anderen Seite der Tür auf mich?« fragte Eddie leise den Revolvermann. »Komm schon, sag es mir. Wenn du es mir sagen kannst, komme ich vielleicht mit. Aber ich werde wissen, wenn du lügst.«
»Möglicherweise der Tod«, sagte der Revolvermann. »Aber ich glaube, bis der eintritt, wirst du dich nicht langweilen. Ich möchte, daß du mich auf einer Suche begleitest. Selbstverständlich wird möglicherweise alles mit dem Tod enden – dem Tod für uns vier an einem fremden Ort. Aber falls wir gewinnen…«
Seine Augen glänzten. »Wenn wir gewinnen, Eddie, wirst du etwas sehen, was du dir in deinen Träumen nicht vorstellen konntest.«
»Was denn?«
»Den Dunklen Turm.«
»Wo ist dieser Turm?«
»Weit von dem Strand entfernt, wo du mich gefunden hast. Wie weit, weiß ich nicht.«
»Was ist er?«
»Auch das weiß ich nicht – nur, daß er eine Art von… von Riegel sein könnte. Eine zentrale Linse, die die gesamte Existenz zusammenhält. Alle Existenz, alle Zeit und alle Größe.«
»Du hast gesagt vier. Wer sind die anderen zwei?«
»Das weiß ich nicht. Sie wurden noch nicht auserwählt.«
»So wie ich auserwählt wurde. Oder wie du mich gern auserwählen würdest.«
»Ja.«
Draußen erfolgte eine hustende Explosion wie von einer Werfergranate. Das Glas des Schaufensters vom Schiefen Turm barst einwärts. Die Bar füllte sich mit erstickenden Tränengasschwaden.
»Nun?« fragte Roland. Er konnte Eddie packen, die Tür durch den Kontakt zum Erscheinen zwingen und sie beide hindurchstoßen. Aber er hatte gesehen, wie Eddie sein Leben für ihn riskiert hatte; er hatte gesehen, wie sich dieser gepeinigte Mann trotz seiner Sucht und der Tatsache, daß er gezwungen gewesen war, so nackt wie am Tag seiner Geburt zu kämpfen, mit aller Würde eines geborenen Revolvermanns geschlagen hatte, und er wollte, daß Eddie seine Entscheidung selbst traf.
»Suchen, Abenteuer, Türme, Welten erobern«, sagte Eddie und lächelte ergeben. Keiner drehte sich um, als frische Tränengassalven in die Bar flogen und zischend auf dem Boden explodierten. Die ersten beißenden Dämpfe drangen in Balazars Büro. »Hört sich besser an als viele dieser Edgar Rice Burroughs-Bücher vom Mars, aus denen mir Henry manchmal vorgelesen hat, als wir noch Kinder waren. Du hast nur eines vergessen.«
»Das wäre?«
»Die wunderschönen barbusigen Mädchen.«
Der Revolvermann lächelte. »Auf dem Weg zum Dunklen Turm«, sagte er, »ist alles möglich.«
Ein weiterer Schauer schüttelte Eddies Körper. Er hob Henrys Kopf, küßte eine kalte, aschfahle Wange, dann legte er das blutige Relikt sanft beiseite. Er stand auf.
»Okay«, sagte er. »Ich hatte für heute abend sowieso nichts anderes vor.«
»Nimm das«, sagte Roland und hielt ihm die Kleidung hin. »Zieh dir wenigstens die Schuhe an. Du hast dir die Füße aufgeschnitten.«
Draußen auf dem Gehweg schlugen zwei Polizisten mit Plexiglashelmen, Fliegerjacken und kugelsicheren Westen die Tür des Schiefen Turms ein. Im Badezimmer reichte Eddie – der Unterhosen und Turnschuhe und sonst nichts anhatte – Roland die Musterpackungen Keflex eine nach der anderen, und Roland steckte sie in die Taschen von Eddies Jeans. Als sie alle sicher verstaut waren, legte Roland Eddie wieder den rechten Arm um die Schultern, und Eddie ergriff wieder
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