Der Dunkle Turm 3 - Tot
Brust gezogen und sah versonnen in die orangeroten Kohlen. Soweit Eddie sagen konnte, hatte keiner der beiden gesehen, wie sich der Knochen verändert hatte. Sie hatten beide gesehen, wie er rotglühend geworden war, und Roland hatte ihn explodieren sehen (oder war er implodiert? Eddie fand, daß das eher zutreffend war), aber das war alles. Glaubte er jedenfalls; doch manchmal behielt Roland etwas für sich, und wenn er beschloß, mit verdeckten Karten zu spielen, dann tat er das konsequent. Das wußte Eddie aus bitterer Erfahrung. Er hatte überlegt, ob er ihnen sagen sollte, was er gesehen hatte – oder gesehen zu haben glaubte –, beschloß dann aber, zumindest vorläufig ebenfalls mit total verdeckten Karten zu spielen.
Von dem Kieferknochen selbst war keine Spur mehr übrig – nicht einmal ein Splitter.
»Ich habe es getan, weil mir eine innere Stimme gesagt hat, daß ich es muß«, sagte Roland. »Es war die Stimme meines Vaters; aller meiner Väter. Wenn man so eine Stimme hört, ist es undenkbar, nicht zu handeln, und zwar sofort. Das hat man mir beigebracht. Was es war, das kann ich nicht sagen… zumindest jetzt nicht. Ich weiß nur, daß der Knochen sein letztes Wort gesprochen hat. Ich habe ihn den ganzen Weg mitgeschleppt, um es zu hören.«
Oder zu sehen, dachte Eddie, und dann wieder: Vergiß nicht. Vergiß nicht die Rose. Und vergiß nicht die Form des Schlüssels.
»Es hätte uns fast gegrillt!« Sie hörte sich müde und verdrossen zugleich an.
Roland schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es war mehr wie das Feuerwerk, das die Barone anläßlich ihrer Jahresabschlußpartys in den Himmel zu schießen pflegten. Bunt und grell, aber nicht gefährlich.«
Eddie hatte eine Idee. »Die Verdoppelung in deinem Verstand, Roland, ist sie fort? Ist sie von dir gewichen, als der Knochen explodiert ist, oder was auch immer?«
Er war fast davon überzeugt; in den Filmen, die er gesehen hatte, wirkte so eine Schocktherapie immer. Aber Roland schüttelte den Kopf.
Susannah regte sich in Eddies Armen. »Du hast gesagt, du fängst an zu verstehen.«
Roland nickte. »Ich glaube, ja. Wenn ich recht habe, habe ich Angst um Jake. Wo immer er ist, wann immer er ist, ich habe Angst um ihn.«
»Was meinst du damit?« fragte Eddie.
Roland stand auf, ging zu seiner Rolle aus Fellen und breitete sie aus. »Genug Geschichten und Aufregung für eine Nacht. Zeit zu schlafen. Morgen folgen wir der Spur des Bären zurück und versuchen, ob wir das Portal finden können, das er bewachen sollte. Unterwegs werde ich euch erzählen, was meiner Meinung nach passiert ist… und immer noch passiert.«
Damit wickelte er sich in eine alte Decke und eine neue Hirschhaut, rollte sich vom Feuer weg und sagte kein Wort mehr.
Eddie und Susannah legten sich gemeinsam hin. Als sie sicher waren, daß der Revolvermann schlief, liebten sie sich. Roland hörte sie dabei, während er wach lag, und hörte ihre leise Unterhaltung danach. Größtenteils über ihn. Er lag still und starrte mit offenen Augen in die Dunkelheit, als ihre Unterhaltung schon längst vorbei war und ihre Atemzüge eine ruhige, gleichförmige Kadenz angenommen hatten.
Es war, dachte er, so schön, jung und verliebt zu sein. Selbst im Friedhof, zu dem diese Welt geworden war, war es schön.
Genießt es, so lange ihr könnt, dachte er, denn vor uns liegt noch mehr Tod. Wir sind zu einem Bach voll Blut gekommen. Dieser wird uns ohne Zweifel zu einem ebensolchen Fluß führen. Und weiter entfernt zu einem Ozean. In dieser Welt klaffen die Gräber, und die Toten ruhen allesamt nicht in Frieden.
Als im Osten die Dämmerung heraufzog, machte er die Augen zu. Schlief kurz. Und träumte von Jake.
19
Eddie träumte ebenfalls – er träumte, er wäre wieder in New York, wo er mit einem Buch in der Hand die Second Avenue entlang ging.
In diesem Traum war es Frühling. Es war warm, die Stadt erblühte, und das Heimweh schmerzte in ihm wie ein Muskel, in dem sich tief ein Angelhaken verfangen hat. Genieß diesen Traum und träum ihn, so lange du kannst, dachte er. Freu dich daran… denn näher wirst du nicht mehr an New York herankommen. Du kannst nicht heimkehren, Eddie. Der Teil ist abgeschlossen.
Er betrachtete das Buch und war nicht im geringsten überrascht, daß es sich um Es gibt kein Zurück von Thomas Wolfe handelte. Auf den dunkelroten Einband waren drei Symbole geprägt: Schlüssel, Rose und Tür. Er blieb einen Moment stehen, schlug das Buch auf
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