Der Dunkle Turm 4 - Glas
brechenden Astes. Es war ganz bestimmt laut genug, dass alle in der unmittelbaren Umgebung ihre Unterhaltungen einstellen und sie ansehen würden, dachte Roland… aber nur Renfrew und die beiden Rancher auf der anderen Seite machten es.
»Ihr Onkel!« Es war ihr erster Beitrag zur Konversation an diesem Abend. »Ihr Onkel, das ist gut! Was, Rennie?«
Renfrew sagte nichts, sondern schob nur seinen Bierkrug weg und machte sich zu guter Letzt doch noch über seine Suppe her.
»Ihr überrascht mich, junger Mann, das tut Ihr. Ihr mögt aus Innerwelt stammen, aber, meine Güte, wer immer Eure Ausbildung über die wirkliche Welt übernommen hat – der Welt außerhalb von Büchern und Landkarten –, hat seine Sache ziemlich schlecht gemacht, würde ich sagen. Sie ist seine…« Und dann folgte ein derart dialektgefärbtes Wort, dass Roland keine Ahnung hatte, was es bedeutete. Seefin, so hörte es sich an, oder vielleicht auch Sheevin.
»Pardon?« Er lächelte, aber das Lächeln seines Mundes wirkte kalt und falsch. Er verspürte eine Schwere im Magen, als hätten sich der Punsch und die Suppe und der einzige Rindfleischstreifen, den er höflichkeitshalber gegessen hatte, in seinem Bauch zusammengeklumpt. Gehört Ihr zum Gesinde?, hatte er sie gefragt und gemeint, ob sie an den Tischen bediente. Möglicherweise bediente sie tatsächlich, aber wahrscheinlich in einem abgeschiedeneren Raum als dem hiesigen. Plötzlich wollte er nichts mehr hören; hatte nicht das geringste Interesse, was das Wort bedeuten könnte, das die Schwester des Bürgermeisters gebraucht hatte.
Eine weitere Lachsalve brachte das Kopfende des Tisches zum Erbeben. Susan lachte mit zurückgelegtem Kopf, leuchtenden Wangen und glänzenden Augen. Ein Träger ihres Kleides war an ihrem Arm heruntergerutscht und gab die zarte Rundung ihrer Schulter frei. Er sah ihr mit vor Furcht und Verlangen schwerem Herzen zu, wie sie den Träger mit der Handfläche abwesend wieder hinaufschob.
»Es bedeutet ›stille kleine Frau‹«, sagte Renfrew, der sich eindeutig nicht wohl fühlte. »Es ist ein alter Ausdruck, der heutzutage kaum noch verwendet wird…«
»Hör auf, Rennie«, sagte Coral Thorin. Dann, zu Roland: »Er ist nur ein alter Cowboy, der nicht aufhören kann, Pferdescheiße zu schippen, auch wenn er nicht bei seinen geliebten Mähren ist. Sheevin bedeutet Nebenfrau. Zu Zeiten meiner Urgroßmutter bedeutete es Hure… aber von einer ganz bestimmten Art.« Sie sah mit ihren hellen Augen zu Susan hinüber, die gerade einen Schluck Bier trank, dann wieder zu Roland. Eine gehässige Heiterkeit leuchtete in ihren Augen auf, ein Ausdruck, der Roland nicht gefiel. »Die Art von Hure, die man mit Münzen bezahlen musste, die zu fein war für das Geschäft mit einfachen Leuten.«
»Ist sie sein Feinsliebchen?«, fragte Roland mit Lippen, die sich anfühlten, als wären sie mit Eis gekühlt worden.
»Aye«, sagte Coral. »Noch nicht vollzogen, erst am Erntetag – und mein Bruder ist garantiert nicht besonders glücklich darüber –, aber gekauft und bezahlt wie in alten Zeiten. Das ist sie.« Coral machte eine Pause, dann sagte sie: »Ihr Vater würde vor Scham sterben, wenn er sie jetzt sehen könnte.« Sie sagte es mit einer Art melancholischer Befriedigung.
»Ich finde, wir sollten nicht zu hart über den Bürgermeister urteilen«, sagte Renfrew mit einer verlegenen, beschwichtigenden Stimme.
Coral beachtete ihn nicht. Sie betrachtete eingehend den Schwung von Susans Kinn, die sanfte Wölbung deren Busen unter dem Seidensaum des Leibchens, das offene Haar. Der verkniffene Humor war aus Coral Thorins Gesicht gewichen. Es drückte nun eine Art von kalter Verachtung aus.
Obwohl Roland es nicht wollte, stellte er sich vor, wie der Bürgermeister mit seinen knochigen Fingern die Träger von Susans Kleid nach unten streifte, die Finger über ihre nackten Schultern krabbeln ließ, sie wie graue Krabben in die Höhlung unter ihrem Haar bohrte. Er sah nach unten, zum Ende des Tisches, doch der Anblick, der sich ihm dort bot, war nicht besser. Olive Thorin war es, auf die sein Blick fiel – Olive, die ans Fußende des Tischs verwiesen worden war; Olive, die zu den lachenden Leuten sah, die am Kopfende des Tisches saßen. Olive, die ihren Mann ansah, der sie zugunsten eines wunderschönen jungen Mädchens verstoßen und dieses Mädchen mit einem Juwel ausgestattet hatte, neben dem ihre Ohrringe aus Feuerjuwelen billig wirkten. Ihr Gesicht drückte weder die
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