Der Dunkle Turm 4 - Glas
Mädchen«, hatte ihr Vater einmal zu ihr gesagt. »Du kannst dich dafür entscheiden, etwas zu tun, du kannst dich entscheiden, etwas nicht zu tun… oder du kannst dich entscheiden, dich nicht zu entscheiden.« Letzteres war, was ihr Da’ nie offen ausgesprochen hatte (weil es nicht nötig war), die Wahl von Schwächlingen und Narren. Sie hatte sich geschworen, dass sie selbst sich niemals dafür entscheiden würde… und doch hatte sie zugelassen, dass sie in diese hässliche Situation hineingeriet. Nun schienen alle Entscheidungen schlecht und ehrlos zu sein, alle Straßen entweder voller Steine oder bis zur Radnabe voller Schlamm.
In ihrem Zimmer im Haus des Bürgermeisters (sie teilte sich seit zehn Jahren keine Kammer mehr mit Hart und hatte seit fünf Jahren nicht mehr das Bett mit ihm geteilt, auch nicht kurzfristig) saß Olive in ihrem Nachthemd aus schlichter weißer Baumwolle und betrachtete ebenfalls den Vollmond. Nachdem sie sich in die wohlbehütete Abgeschiedenheit ihres Zimmers zurückgezogen hatte, hatte sie geweint… aber nicht lange. Nun waren ihre Augen trocken, und sie fühlte sich so hohl wie ein abgestorbener Baum.
Und was war das Schlimmste? Dass Hart nicht begriff, wie gedemütigt sie sich fühlte, und nicht nur ihretwegen. Er war zu sehr damit beschäftigt, herumzustolzieren und sich aufzuplustern (und zu beschäftigt, Sai Delgado bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Ausschnitt zu schauen), um zu merken, dass die Leute – darunter sein eigener Kanzler – hinter seinem Rücken über ihn lachten. Vielleicht hörte das auf, wenn das Mädchen mit einem dicken Bauch zu ihrer Tante zurückgekehrt war, aber bis dahin würden noch Monate vergehen. Dafür hatte die Hexe gesorgt. Und wenn das Mädchen nicht gleich empfing, würde es noch länger dauern. Und was war das Dümmste und Demütigendste von allem? Dass sie, John Havertys Tochter Olive, ihren Mann immer noch liebte. Hart war ein jämmerlicher, eitler, wichtigtuerischer Geck von einem Mann, aber sie liebte ihn trotzdem.
Und da war noch etwas, davon abgesehen, dass sich Hart in seinen späten mittleren Jahren in einen Ziegenbock verwandelte: Sie glaubte, dass eine Art Intrige eingefädelt wurde, etwas Gefährliches und höchstwahrscheinlich Unehrenhaftes. Hart ahnte möglicherweise ein bisschen davon, aber sie vermutete, dass er nur das wusste, was Kimba Rimer und dieser grässliche hinkende Mann ihn wissen lassen wollten.
Es hatte eine Zeit gegeben, und die lag noch gar nicht so lange zurück, da hätte sich Hart von Leuten wie Rimer nicht auf diese Weise hinters Licht führen lassen, eine Zeit, da hätte er nur einen Blick auf Eldred Jonas und dessen Freunde werfen müssen, um sie dann nach Westen zu schicken, noch bevor sie auch nur eine einzige warme Mahlzeit im Bauch gehabt hätten. Aber das alles war gewesen, bevor Hart sich völlig in Sai Delgados graue Augen, ihren straffen Busen und ihren flachen Bauch vernarrt hatte.
Olive drehte die Lampe herunter, blies die Flamme aus und kroch ins Bett, wo sie bis zum Einbruch der Dämmerung wach liegen würde.
Um ein Uhr hielt sich niemand mehr in den öffentlichen Räumen im Haus des Bürgermeisters auf, abgesehen von vier Putzfrauen, die ihre Arbeit stumm (und nervös) unter der Aufsicht von Eldred Jonas verrichteten. Als eine von ihnen hochsah und feststellte, dass er nicht mehr in dem Sessel am Fenster saß, wo er geraucht hatte, murmelte sie ihren Freundinnen leise etwas zu, und alle entspannten sich ein wenig. Aber es wurde weder gesungen noch gelacht. Il spectro, der Mann mit dem blauen Sarg auf der Hand, hatte sich vielleicht nur in den Schatten zurückgezogen. Vielleicht beobachtete er sie immer noch.
Um zwei Uhr waren selbst die Putzfrauen gegangen. Es war die Stunde, da eine Abendgesellschaft in Gilead gerade einmal den Höhepunkt an Prunk und Klatsch erreicht hätte, aber Gilead war weit entfernt, nicht nur in einer anderen Baronie, sondern fast in einer anderen Welt. Hier aber war man im Äußeren Bogen, und im Äußeren gingen selbst die Edelleute früh zu Bett.
Im Traveller’s Rest jedoch waren keine Edelleute zu sehen, und unter dem allumfassenden Blick des Wildfangs war die Nacht noch immer recht jung.
2
Am einen Ende des Saloons tranken Fischersleute, die noch ihre heruntergerollten Stiefel trugen, und spielten Watch Me um kleine Einsätze. Zu ihrer Rechten war ein Tisch, an dem gepokert wurde; zur Linken stand eine Traube schreiender,
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