Der Dunkle Turm 4 - Glas
einmal jemand. Die Stimme erklang in dieser Stille wie ein Schock – nicht, weil sie so plötzlich ertönte, und bestimmt auch nicht, weil sie wütend war. Sie kam wie ein Schock, weil sie so amüsiert klang. »Ich werde das einfach nicht zulassen. Auf keinen Fall. Ich würde so was zwar gern mal sehen, allein es geht nicht. Unhygienisch, versteht ihr? Wer weiß schon, welche Krankheiten auf diesem Wege übertragen werden könnten. Der Verstand sträubt sich. Sträubt sich absolut!«
Der Überbringer dieser idiotischen und potenziell fatalen Worte stand unmittelbar zwischen den Flügeln der Schwingtür: ein junger Mann mittlerer Größe, der seinen flachen Hut zurückgeschoben hatte, sodass ihm eine braune Locke wie ein schiefes Komma auf der Stirn prangte. Aber junger Mann wurde ihm nicht gerecht, stellte Depape fest; junger Mann dehnte den Begriff schon beträchtlich. Er war noch ein Kind. Um den Hals trug er, die Götter wussten warum, einen Vogelschädel wie einen riesigen komischen Anhänger. Der Schädel hing an einer Kette durch die Augenlöcher. Und in den Händen hielt der Junge nicht etwa ein Schießeisen (woher hätte ein Bengel wie er, der noch kein Haar auf den Wangen hatte, auch ein Schießeisen bekommen sollen?, fragte sich Depape), sondern eine verdammte Steinschleuder. Depape prustete vor Lachen.
Der Junge lachte ebenfalls und nickte, so als würde er gut verstehen, wie lächerlich die ganze Sache aussah, wie lächerlich die ganze Sache war. Sein Lachen wirkte ansteckend; Pettie, die nach wie vor auf ihrem Hocker stand, kicherte selbst, bevor sie dann schnell die Hände vor den Mund schlug.
»Das hier ist kein Platz für einen Knaben wie dich«, sagte Depape. Seinen Revolver, eine alte fünfschüssige Waffe, hatte er immer noch gezückt; er hielt ihn in der Hand, die immer noch auf dem Tresen ruhte, und Stanley Ruiz’ Blut tropfte vom Lauf. Depape winkte verhalten damit, ohne die Hand vom Eisenholztresen zu nehmen. »Jungs, die in solche Lokale kommen, lernen nur schlechte Gewohnheiten, Kind. Sterben gehört auch dazu. Darum gebe ich dir diese eine Chance. Raus hier.«
»Danke, Sir, ich weiß die eine Chance zu schätzen«, sagte der Junge. Er sagte es mit großer und einnehmender Aufrichtigkeit… rührte sich aber nicht vom Fleck. Er blieb einfach an der Schwingtür stehen und hielt das breite, elastische Band seiner Schleuder gespannt. Depape konnte nicht recht erkennen, was in der Lasche lag, aber es funkelte im Gaslicht. Eine Art Metallkugel.
»Ja, und?«, fauchte Depape. Die Sache wurde abgeschmackt, und zwar ziemlich schnell.
»Ich weiß, ich bin nichts weiter als ein Quälgeist – ganz zu schweigen von einem Schmerz im Arsch und einem milchigen Tropfen von der Spitze eines wunden Pimmels –, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, mein teurer Freund, würde ich meine Chance gern dem jungen Burschen geben, der da vor Ihnen auf den Knien liegt. Lassen Sie ihn sich entschuldigen, lassen Sie ihn Ihre Stiefel mit dem Tuch polieren, bis Sie vollauf zufrieden sind, und dann lassen Sie ihn sein Leben weiterleben.«
Undeutliches zustimmendes Murmeln ertönte aus dem Bereich, wo die Kartenspieler saßen. Das gefiel Depape ganz und gar nicht, und er fällte eine plötzliche Entscheidung. Der Junge würde ebenfalls sterben, er würde wegen des Verbrechens der Impertinenz hingerichtet werden. Der Tölpel, der den Eimer mit den Resten über ihn geschüttet hatte, war eindeutig zurückgeblieben. Jener Bengel dort hatte aber nicht einmal diese Entschuldigung. Er glaubte nur, dass er komisch sei.
Aus den Augenwinkeln sah Depape, wie sich Reynolds geschmeidig wie geölte Seide bewegte, um die Flanke des Jungen abzudecken. Depape wusste die Geste zu schätzen, glaubte aber nicht, dass er nennenswerte Hilfe bei diesem Schleuderfachmann brauchen würde.
»Junge, ich glaube, du hast einen Fehler gemacht«, sagte er mit einer freundlichen Stimme. »Ich glaube wirklich…« Die Lasche der Schleuder zuckte leicht nach unten… oder Depape bildete es sich ein. Er reagierte sofort.
3
In Hambry erzählte man sich noch Jahre später davon; drei Jahrzehnte nach dem Fall von Gilead und dem Ende des Bundes erzählte man sich immer noch davon. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits mehr als fünfhundert alte Opas (und ein paar alte Omas), die behaupteten, dass sie in jener Nacht ein Bier im Traveller’s Rest getrunken und alles mit angesehen hätten.
Depape war jung und besaß die Schnelligkeit einer
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