Der Dunkle Turm 4 - Glas
sie zum Streckenplan hinüber. »Hallo, Blaine.«
»HOWDY, SUSANNAH VON NEW YORK.«
Ihr Herz klopfte, ihre Achselhöhlen waren nass, und sie stellte erneut etwas fest, was ihr zum ersten Mal bereits in der ersten Klasse aufgefallen war: Es war schwer, den Anfang zu machen. Es war schwer, vor der ganzen Klasse aufzustehen und als Erste ein Lied zu singen, einen Witz zu erzählen oder zu schildern, wie man seine Sommerferien verbracht hatte… oder sein Rätsel zu stellen. Das Rätsel, das sie ausgesucht hatte, stammte aus Jake Chambers’ verrücktem Englischaufsatz, den er ihnen während des langen Palavers nach ihrem Aufbruch von River Crossing fast Wort für Wort erzählt hatte. Der Aufsatz mit dem Titel Mein Verständnis von Wahrheit enthielt zwei Rätsel, von denen Eddie dem Mono allerdings schon eines gestellt hatte.
»SUSANNAH? BIST DU NOCH DA, MEIN KLEINES COWGIRL?«
Wieder spöttisch, aber diesmal klang der Spott beschwingt, humorvoll. Heiter. Blaine konnte charmant sein, wenn er bekam, was er wollte. Wie bestimmte verzogene Kinder, die sie gekannt hatte.
»Ja, Blaine, ich bin da, und hier ist mein Rätsel. Was kann vier Räder haben und fliegen auch?«
Es folgte ein eigentümliches Klicken, so als würde Blaine den Laut eines Menschen nachahmen, der mit der Zunge am Gaumen schnalzte. Danach folgte eine kurze Pause. Als Blaine antwortete, war die Heiterkeit fast gänzlich aus seiner Stimme verschwunden. »NATÜRLICH DER STÄDTISCHE MÜLLWAGEN. EIN KINDERRÄTSEL. WENN EURE ANDEREN RÄTSEL NICHT BESSER SIND, WIRD ES MIR ZIEMLICH LEID TUN, DASS ICH EUER LEBEN AUCH NUR SO KURZE ZEIT VERSCHONT HABE.«
Diesmal leuchtete der Streckenplan nicht grellrot auf, sondern blassrosa. »Macht ihn nicht wütend«, flehte die Stimme des Kleinen Blaine. Jedes Mal, wenn er das Wort ergriff, stellte sich Susannah einen schwitzenden, kleinen, kahlköpfigen Mann vor, dessen Bewegungen allesamt etwas Geducktes hatten. Die Stimme des Großen Blaine kam von überall her (wie die Stimme Gottes in einem Film von Cecil B. DeMille, dachte Susannah), aber die des Kleinen Blaine immer nur von einer Stelle: einem kleinen Lautsprecher unmittelbar über ihnen. »Bitte macht ihn nicht wütend, Leute; er hat die Bahn geschwindigkeitsmäßig schon im roten Bereich, die Stoßdämpfer kommen kaum noch nach. Der Zustand der Schiene hat sich seit unserer letzten Fahrt hier entlang deutlich verschlimmert.«
Susannah, die früher genug holprige Züge und schwankende U-Bahnen erlebt hatte, spürte nichts – die Fahrt ging so glatt vonstatten wie schon beim Aufbruch von der Krippe in Lud –, aber sie glaubte dem Kleinen Blaine trotzdem. Sie vermutete, wenn sie ein Holpern spüren würden, dann wäre es wahrscheinlich das Letzte, was sie überhaupt spüren würden.
Roland stieß sie mit dem Ellbogen an und holte sie in die Wirklichkeit zurück.
»Danke-sai«, sagte sie, und dann klopfte sie sich, einem verspäteten Einfall nachgebend, mit den Fingern der rechten Hand dreimal rasch an die Kehle. Das hatte auch Roland getan, als er erstmals das Wort an Tante Talitha gerichtet hatte.
»DANKE FÜR DEINE HÖFLICHKEIT«, sagte Blaine. Er hörte sich wieder amüsiert an, und Susannah dachte, dass das gut war, auch wenn seine Amüsiertheit auf ihre Kosten ging. »ICH BIN ALLERDINGS KEINE FRAU. SOFERN ICH ÜBERHAUPT EIN GESCHLECHT HABE, BIN ICH MÄNNLICH.«
Susannah sah verwirrt zu Roland.
»Linke Hand für Männer«, sagte er. »Auf das Brustbein.« Er klopfte, um es ihr zu zeigen.
»Oh.«
Roland drehte sich zu Jake um. Der Junge stand auf, setzte Oy auf seinen Stuhl (was nichts nützte; Oy sprang sofort wieder auf und folgte Jake, als dieser den Mittelgang zum Streckenplan ging) und wandte seine Aufmerksamkeit Blaine zu.
»Hallo, Blaine, hier ist Jake. Du weißt schon, Sohn des Elmer.«
»STELL DEIN RÄTSEL.«
»Was bewegt sich und kommt nicht fort, hat einen Mund und spricht kein Wort, hat ein Bett und kann doch nicht schlafen, und birgt für manchen einen sicheren Hafen?«
»NICHT SCHLECHT! MAN MÖCHTE HOFFEN, SUSANNAH NIMMT SICH EIN BEISPIEL AN DIR, JAKE, SOHN DES ELMER. DIE ANTWORT MUSS FÜR JEDEN MIT EINEM FÜNKCHEN INTELLIGENZ AUF DER HAND LIEGEN, ABER DENNOCH EIN GUTER VERSUCH. EIN FLUSS.«
»Danke-sai, Blaine, du hast richtig geantwortet.« Er schlug sich mit den Fingern der linken Hand dreimal nacheinander auf das Brustbein, dann setzte er sich. Susannah legte einen Arm um ihn und drückte ihn kurz. Jake sah sie dankbar an.
Nun
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