Der Dunkle Turm 4 - Glas
dich trocken gerammelt, das ist alles. Kein Grund, so aus dem Häuschen zu geraten. Und ganz gewiss kein Grund für schlaflose Nächte.«
»Woher willst du das wissen?«, sagte Susan. Das war eine respektlose Frage, aber das kümmerte sie nicht. Sie glaubte, sie hätte einen Punkt erreicht, an dem sie alles von ihrer Tante ertragen konnte, nur nicht diesen herablassenden, weltklugen Ton. Der tat ihr weh wie eine frische Schürfwunde.
Cordelia zog eine Braue hoch, antwortete aber ohne Missstimmung. »Wie es dir gefällt, mir das vorzuhalten! Tante Cordelia, der trockene alte Stecken. Tante Cord, die alte Jungfer. Tante Cord, die grauhaarige Jungfrau. Aye? Nun, Miss O So Jung Und Hübsch, ich mag eine Jungfrau sein, aber ich hatte auch einen oder zwei Liebhaber, als ich jung war… bevor die Welt sich weiterbewegt hat, könnte man sagen. Möglicherweise war ja einer davon der große Fran Lengyll.«
Vielleicht aber auch nicht, dachte Susan; Fran Lengyll war mindestens fünfzehn Jahre älter als ihre Tante, vielleicht sogar fünfundzwanzig.
»Ich habe auch ein- oder zweimal den Bock des guten alten Tom von hinten gespürt, Susan. Aye, und von vorn auch.«
»Und war einer dieser Liebhaber sechzig, mit schlechtem Atem und Knöcheln, die knackten, wenn er deine Tittchen drückte, Tante? Hat einer davon versucht, dich durch die nächste Wand zu hämmern, wenn der gute alte Tom anfing, mit seinem Bart zu wackeln und Mäh-mäh-mäh sagte?«
Die Wut, mit der sie gerechnet hatte, blieb aus. Was stattdessen kam, war jedoch schlimmer – ein Ausdruck, welcher der Leere, die sie im Spiegel auf Thorins Gesicht gesehen hatte, ziemlich nahe kam. »Geschehen ist geschehen, Susan.« Ein Lächeln, kurzlebig und grässlich, huschte wie ein Lidschlag über das schmale Gesicht ihrer Tante. »Geschehen ist geschehen, aye.«
In einer Art von Entsetzen schrie Susan: »Mein Vater hätte das alles gehasst! Hätte es gehasst! Und er hätte dich gehasst, weil du es zulässt! Weil du es auch noch unterstützt!«
»Schon möglich«, sagte Tante Cord, und das grässliche Lächeln blitzte wieder auf. »Schon möglich. Aber was hätte er noch mehr gehasst? Die Ehrlosigkeit eines gebrochenen Versprechens, die Schande eines treulosen Kindes. Er würde wollen, dass Sie es tut, Susan. Wenn Sie sich an sein Angesicht erinnert, dann muss Sie es tun.«
Susan sah sie an, zog den Mund zu einem bebenden Bogen hinab, und wieder traten ihr Tränen in die Augen. Ich habe jemanden kennen gelernt, den ich liebe! Das hätte sie ihr gesagt, wenn sie gekonnt hätte. Begreifst du nicht, wie das alles verändert? Ich habe jemanden kennen gelernt, den ich liebe! Aber wenn Tante Cord jemand gewesen wäre, zu dem sie das hätte sagen können, hätte sich Susan wahrscheinlich niemals auf diesem Pflock aufgespießt. Daher drehte sie sich um und lief ohne ein weiteres Wort aus dem Haus; ihre Sicht verschwamm vor ihren tränenden Augen und malte die Spätsommerwelt in trostlosen Farben.
6
Sie ritt ohne eine bewusste Vorstellung davon los, wohin sie wollte, und doch musste ein Teil von ihr ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen gehabt haben, weil sie sich vierzig Minuten nachdem sie das Haus verlassen hatte, genau dem Weidenwäldchen näherte, von dem sie geträumt hatte, als Thorin sich wie ein böser Troll aus einem Ammenmärchen an sie herangeschlichen hatte.
Unter den Weiden war es herrlich kühl. Susan band Felicia (auf der sie ohne Sattel geritten war) an einem Ast fest und ging langsam über die kleine Lichtung inmitten des Wäldchens. Hier floss auch der Bach entlang, und hier setzte sie sich auf das federnde Moos, das auf der Lichtung wuchs. Natürlich war sie hierher gekommen; hierher hatte sie jeden heimlichen Kummer und jede heimliche Freude gebracht, seit sie die Lichtung im Alter von acht oder neun Jahren entdeckt hatte. Hierher war sie immer wieder gekommen in den nahezu endlosen Tagen nach dem Tod ihres Vaters, als es ihr so vorkam, als wäre die ganze Welt – zumindest ihre Version davon – mit Pat Delgado zu Ende gegangen. Nur diese Lichtung kannte das ganze schmerzliche Ausmaß ihres Kummers; dem Bach hatte sie davon erzählt, und der Bach hatte ihn fortgespült.
Nun wurde sie von einem neuerlichen Weinkrampf geschüttelt. Sie stützte den Kopf auf die Knie und schluchzte – laute, undamenhafte Töne, gleich dem Kreischen streitender Krähen. In diesem Augenblick dachte sie, dass sie alles – rein alles – gegeben hätte, um ihren
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