Der Dunkle Turm 4 - Glas
Geflecht der Adern.
11
Roland hatte Rusher ausreichend weit unter den Weiden festgebunden, dass niemand, der zufällig über die Schräge ritt, den großen Wallach sehen konnte.
»Bleib ruhig«, sagte Roland, als er näher kam. »Sei noch ein Weilchen ruhig, mein Guter.«
Rusher stampfte und wieherte, als wollte er sagen, dass er bis ans Ende der Zeiten ruhig bleiben könne, sollte das erforderlich sein.
Roland öffnete die Satteltasche und holte das Stahlutensil heraus, das entweder als Topf oder als Bratpfanne diente, je nach Bedarf. Er wandte sich ab, drehte sich dann aber noch einmal um. Er hatte sein aufgerolltes Bettzeug hinter Rushers Sattel festgebunden – ursprünglich wollte er die Nacht auf der Schräge verbringen, um nachzudenken. Es war eine Menge passiert, worüber er nachdenken musste, aber jetzt war wohl noch mehr dazugekommen.
Er zog eine der Wildlederschnüre auf, schob die Hand ins Bettzeug und nahm dort ein kleines Metallkästchen heraus. Er öffnete es mit einem kleinen Schlüssel, den er um den Hals trug. Im Kästchen befand sich ein kleines quadratisches Medaillon an einer feinen Silberkette (das Medaillon enthielt eine Porträtzeichnung seiner Mutter) und eine Hand voll Ersatzpatronen – nicht ganz ein Dutzend. Er nahm eine davon, schloss die Faust darum und ging zu Susan zurück. Sie sah ihn mit großen, ängstlichen Augen an.
»Ich kann mich an nichts erinnern, was passiert ist, nachdem wir uns zum zweiten Mal geliebt haben«, sagte sie. »Nur, dass ich zum Himmel gesehen und gedacht habe, wie schön es war, und dass ich eingeschlafen bin. Oh, Roland, wie schlimm sieht es aus?«
»Nicht sehr, glaube ich, aber das kannst du besser beurteilen als ich. Hier.«
Er füllte den Kochtopf mit Wasser und stellte ihn ans Ufer. Susan beugte sich ängstlich darüber, legte das Haar der linken Kopfseite über den Unterarm und bewegte den Unterarm langsam von sich weg, wodurch sie die Haare zu einem strahlend goldenen Band spannte. Sie sah den unebenmäßigen Schnitt sofort. Sie begutachtete ihn gründlich, dann ließ sie das Haar mit einem Seufzer, der mehr Erleichterung als Gram ausdrückte, wieder sinken.
»Ich kann es verbergen«, sagte sie. »Wenn es geflochten ist, wird niemand etwas merken. Und außerdem, ’s ist nur Haar – nichts weiter als der Stolz einer Frau. Meine Tante hat mir das sicherlich oft genug gesagt. Aber, Roland, warum? Warum habe ich das getan?«
Roland hatte eine Ahnung. Wenn Haar der Stolz einer Frau war, dann ging das Abschneiden der Haare wahrscheinlich auf die Gemeinheit einer Frau zurück – ein Mann würde an so etwas kaum denken. Die Frau des Bürgermeisters, war sie es gewesen? Er glaubte es nicht. Ihm erschien es wahrscheinlicher, dass Rhea, da oben auf ihrem Berg, der in Richtung Norden das Böse Gras, den Hanging Rock und den Eyebolt Canyon überblickte, diese hässliche Falle gestellt hatte. Bürgermeister Thorin hatte wohl am Morgen nach der Ernte mit einem Kater und einem kahlköpfigen Feinsliebchen aufwachen sollen.
»Susan, kann ich etwas ausprobieren?«
Sie lächelte ihn an. »Etwas, was du da oben noch nicht ausprobiert hast? Aye, was du willst.«
»Nichts dergleichen.« Er öffnete die Hand, die zur Faust geballt gewesen war, und zeigte ihr die Patrone. »Ich möchte herausfinden, wer dir das angetan hat und warum.« Und noch viel mehr. Er wusste nur noch nicht, was.
Sie betrachtete die Patrone. Roland bewegte sie über den Handrücken, ließ sie mit einer webartigen, geschmeidigen Bewegung hin und her tanzen. Die Fingerknöchel hoben und senkten sich wie die Schiffchen eines Webstuhls. Sie betrachtete es mit der faszinierten Verzückung eines Kindes. »Wo hast du das gelernt?«
»Zu Hause. Ist nicht wichtig.«
»Du hypnotisierst mich?«
»Aye… und ich glaube, es ist nicht das erste Mal.« Er ließ die Patrone nun etwas schneller tanzen – mal nach Osten auf den wogenden Knöcheln, mal nach Westen. »Darf ich?«
»Aye«, sagte sie. »Wenn du’s schaffst.«
12
Er schaffte es durchaus; die Schnelligkeit, mit der sie in Hypnose fiel, bestätigte, dass es Susan schon einmal passiert sein musste, und zwar erst vor kurzem. Aber er bekam aus ihr nicht das heraus, was er wissen wollte. Sie war vollkommen hilfsbereit (manche schlafen eifrig, hätte Cort gesagt), aber weiter als bis zu einem bestimmten Punkt wollte sie nicht gehen. Das war auch kein Getue oder Schamhaftigkeit – als sie da so mit offenen Augen am
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