Der Dunkle Turm 4 - Glas
ausdruckslos. Sie war wach und schlief doch zugleich. Rhea sah, wie sie die Hand behutsam aus der des Jungen löste. Sie richtete sich auf, nackte Brüste an nackten Schenkeln, und sah sich um. Sie stand auf…
In diesem Augenblick sprang Musty, der sechsbeinige Kater, Rhea auf den Schoß und miaute, weil er entweder Futter oder Zuwendung wollte. Die alte Frau schrie vor Überraschung auf, und das Zaubererglas wurde sofort dunkel – ausgeblasen wie eine Kerzenflamme von einem Windstoß.
Rhea schrie wieder, diesmal vor Wut, und packte die Katze, ehe diese die Flucht ergreifen konnte. Sie warf den Kater quer durch das Zimmer in den offenen Kamin. Der Kamin war so tot und erloschen, wie es ein Kamin im Hochsommer nur sein kann, aber als Rhea mit einer knochigen, gichtigen Hand darauf zeigte, loderte eine gelbe Flamme von dem einzigen verkohlten Scheit empor, das darin lag. Musty kreischte und floh mit aufgerissenen Augen aus dem Kamin, während sein gespaltener Schwanz wie eine achtlos ausgedrückte Zigarre rauchte.
»Lauf, aye!«, keifte Rhea hinter ihm her. »Schaff dich fort, du garstiger Gesell!«
Sie drehte sich wieder zur Glaskugel um und spreizte die Hände darüber, Daumen an Daumen. Aber obwohl sie sich mit aller Macht konzentrierte und alle Willenskraft aufbot, bis ihr das Herz mit einer kranken Wut in der Brust schlug, gelang es ihr nicht, das rosa Leuchten der Kugel wieder zu entfachen. Nicht ein einziges Bild zeigte sich. Was eine herbe Enttäuschung war, aber leider ließ sich nichts dagegen machen. Aber schließlich konnte sie die Folgen ja auch mit eigenen Augen begutachten, wenn sie einmal die Lust überkommen sollte, in die Stadt zu gehen, um nachzusehen.
Alle würden es sehen können.
Nachdem ihre gute Laune wieder hergestellt war, legte Rhea die Glaskugel in das Versteck zurück.
10
Nur Augenblicke, bevor er so tief schlief, dass er das, was gerade geschah, nicht mehr mitbekam, ertönte in Rolands Kopf eine Alarmglocke. Vielleicht lag es an der verschwommenen Wahrnehmung, dass ihre Hand nicht mehr in seiner lag; vielleicht war es reine Eingebung. Er hätte die leise Glocke einfach nicht weiter beachten können, und beinahe hätte er das auch nicht getan, aber am Ende gewann doch seine Ausbildung die Überhand. Er entfernte sich von der Schwelle des Tiefschlafs und kämpfte sich ins Wachsein zurück wie ein Taucher, der zur Oberfläche eines Sees emporstieg. Anfangs fiel es ihm schwer, aber es ging zusehends leichter; als er sich dem Wachsein fast genähert hatte, wuchs seine Unruhe.
Er schlug die Augen auf und sah nach links. Susan war nicht mehr da. Er richtete sich auf, sah nach rechts und erblickte auch oberhalb der Uferböschung des Bachs nichts… und doch spürte er, dass sie sich in dieser Richtung befand.
»Susan?«
Keine Antwort. Er stand auf, sah auf seine Hose hinab, und da sagte Cort – ein Besucher, mit dem er an diesem romantischen Ort nie und nimmer gerechnet hätte – mit seiner bärbeißigen Stimme in Rolands Kopf: Keine Zeit, du Wurm.
Er ging nackt zum Ufer und sah nach unten. Da war Susan tatsächlich, ebenfalls nackt, und hatte ihm den Rücken zugekehrt. Sie hatte das Haar geöffnet. Es hing wie Goldfäden fast bis zu ihrem lyrahaft geschwungenen Becken hinab. In der kalten Luft, die von der Oberfläche des Bachs aufstieg, erbebten die Haarspitzen wie Nebel.
Sie hatte sich am fließenden Wasser auf ein Knie niedergelassen. Einen Arm hatte sie fast bis zum Ellbogen hineingesteckt; es schien, als suchte sie nach etwas.
»Susan!«
Keine Antwort. Und jetzt erfüllte ihn ein kalter Gedanke: Sie ist von einem Dämon besessen. Während ich sorglos neben ihr geschlafen habe, hat ein Dämon von ihr Besitz ergriffen. Aber ihm war dennoch nicht, als ob er das wirklich glaubte. Wenn sich ein Dämon in der Nähe dieser Lichtung aufgehalten hätte, dann hätte er es bemerkt. Wahrscheinlich hätten sie es beide gespürt; und die Pferde auch. Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
Sie nahm einen Gegenstand aus dem Bachbett und hielt ihn sich mit einer tropfenden Hand vor die Augen. Ein Stein. Sie begutachtete ihn und warf ihn dann zurück – platsch. Sie streckte die Hand mit gebeugtem Kopf wieder ins Wasser, und nun schwammen zwei ihrer Haarsträhnen tatsächlich darin, und der Bach zog sie spielerisch in die Richtung, in die er floss.
»Susan!«
Keine Antwort. Sie nahm einen weiteren Stein aus dem Bachbett, ein dreieckiges Stück weißen Quarzes, das
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