Der Dunkle Turm 4 - Glas
Susan möglicherweise nicht die einzige dumme Gans in der Familie Delgado war, kam sie nicht.)
»So sei es«, sagte Jonas mit einem dermaßen komischen Ausdruck der Enttäuschung im Gesicht, dass sie lachen musste. »Und Ihre Nichte? Geht es ihr gut?«
»Recht gut, danke der Nachfrage. Manchmal ist sie eine rechte Plage…«
»Welches sechzehnjährige Mädchen wäre das nicht gewesen?«
»Da habt Ihr wohl Recht.«
»Und doch tragen Sie ihretwegen eine zusätzliche Last in diesem Herbst. Obwohl ich bezweifle, dass ihr das klar ist.«
Cordelia sagte nichts – es wäre nicht diskret gewesen –, sah ihn aber mit einem bedeutsamen Blick an, der alles sagte.
»Bitte bestellen Sie ihr meine Grüße.«
»Das werde ich.« Aber das würde sie nicht. Susan hatte eine große (und nach Cordelias Meinung unsinnige) Abneigung gegen Bürgermeister Thorins Regulatoren entwickelt. Es würde wahrscheinlich nichts nützen, wenn sie versuchte, ihr das auszureden; junge Mädchen bildeten sich ja stets ein, sie wüssten alles. Sie betrachtete den Stern, der unauffällig unter dem Kragen von Jonas’ Jacke hervorlugte. »Wie ich sehe, habt Ihr eine weitere Verantwortung in unserer unwürdigen Stadt übernommen, Sai Jonas.«
»Aye, ich helfe Sheriff Avery aus«, sagte er nickend. Seine Stimme bebte auf eine zittrige Weise, die Cordelia irgendwie ganz reizend fand. »Einer seiner Hilfssheriffs – Claypool, so heißt er…«
»Frank Claypool, aye.«
»… ist aus seinem Boot gefallen und hat sich ein Bein gebrochen. Wie stellt man das wohl an, Cordelia? Aus einem Boot fallen und sich das Bein brechen?«
Sie lachte herzlich (die Vorstellung, dass ganz Hambry sie beide beobachtete, entsprach sicher nicht der Wahrheit… aber ihr kam es so vor, und das Gefühl war nicht unangenehm) und sagte, sie könne es sich eigentlich nicht vorstellen.
Er blieb mit einem Ausdruck des Bedauerns auf dem Gesicht an der Ecke Hauptstraße und Camino Vega stehen. »Hier muss ich abbiegen.« Er gab ihr die Kiste zurück. »Sind Sie sich sicher, dass Sie das tragen können? Ich sollte Sie vielleicht bis zu Ihrem Haus begleiten…«
»Nicht nötig, nicht nötig. Danke. Danke, Eldred.« Die Röte, die ihr an Hals und Wangen emporstieg, fühlte sich so heiß wie Feuer an, aber sein Lächeln war jedes Ausmaß an Hitze wert. Er tippte zum Abschied mit zwei Fingern an die Hutkrempe und schlenderte den Hügel hinauf zum Büro des Sheriffs.
Cordelia ging weiter nach Hause. Die Kiste, die ihr so eine Last gewesen war, als sie den Laden verlassen hatte, schien nun fast gar nichts mehr zu wiegen. Dieses Gefühl dauerte auch etwa eine halbe Meile an, aber als ihr Haus endlich in Sichtweite kam, merkte sie, wie ihr der Schweiß an den Seiten hinablief und wie die Arme schmerzten. Den Göttern sei Dank, dass der Sommer fast vorbei war… und war das nicht Susan, die da gerade ihre Mähre zum Tor hineinführte?
»Susan!«, rief sie, und inzwischen war sie wieder so weit auf den Boden zurückgekehrt, dass man ihrer Stimme den Zorn auf das Mädchen anhören konnte. »Komm und hilf mir, bevor ich das fallen lasse und die Eier zerbreche!«
Susan kam herbei und ließ Felicia so lange im Vorgarten grasen. Noch vor zehn Minuten wäre Cordelia nicht aufgefallen, wie das Mädchen aussah – ihre Gedanken hatten so sehr um Eldred Jonas gekreist, dass kaum Raum für etwas anderes blieb. Aber die heiße Sonne hatte ihr inzwischen den größten Teil ihrer romantischen Gefühle aus dem Kopf gebrannt und sie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Und als Susan ihr die Kiste abnahm (die sie fast so mühelos zu tragen schien wie Eldred Jonas), fand Cordelia, dass ihr das Äußere des Mädchens eigentlich ganz gut gefiel. Zunächst einmal hatte sich dessen Stimmung verändert – aus der halb hysterischen Verwirrung bei seinem Aufbruch war eine fröhliche und glückselige Ruhe geworden. Das war die Susan früherer Zeiten, von Kopf bis Fuß… nicht das launische Klageweib wie seit diesem Jahr. Cordelia konnte nichts Bestimmtes erkennen, außer…
Doch, da war etwas. Eine Sache. Sie streckte die Hand aus und packte den Zopf des Mädchens, der heute Nachmittag ungewöhnlich nachlässig aussah. Natürlich war Susan ausgeritten, das konnte eine Erklärung für die unordentliche Frisur sein. Aber es war keine Erklärung dafür, wie dunkel ihr Haar war, so als wäre die goldene Pracht irgendwie angelaufen. Und sie zuckte fast schuldbewusst zusammen, als sie Cordelias Hand spürte.
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