Der Dunkle Turm 4 - Glas
abgesplittert war und fast die Form einer Speerspitze besaß. Susan neigte den Kopf nach links und nahm eine Haarsträhne in die Hand, wie eine Frau, die eine verfilzte Stelle auskämmen möchte. Aber sie hatte keinen Kamm, nur den scharfkantigen Stein, und Roland blieb noch einen Moment starr vor Entsetzen oben an der Böschung stehen, überzeugt davon, dass sie sich vor Scham oder aus einem Schuldgefühl heraus angesichts dessen, was sie getan hatten, die Kehle aufschneiden wollte. In den kommenden Wochen quälte ihn immer wieder ein einziges Bild, klar und deutlich: Wenn sie sich wirklich die Kehle hätte aufschneiden wollen, wäre er nicht mehr rechtzeitig bei ihr gewesen, um sie aufhalten zu können.
Dann überwand er seine Lähmung und rannte die Böschung hinunter, ohne auf die spitzen Steine zu achten, die ihm die Sohlen aufrissen. Ehe er sie erreichen konnte, hatte sie sich mit dem Stück Quarz schon ein Stück der goldenen Strähne abgeschnitten, die sie in der Hand hielt.
Roland packte sie am Handgelenk und riss es zurück. Jetzt konnte er ihr Gesicht deutlich sehen. Was er von oben, am Ufer, für Verklärung gehalten haben mochte, entpuppte sich nun als das, was es wirklich war: Leere, Ausdruckslosigkeit.
Als er sie festhielt, verdrängte ein düsteres und ärgerliches Lächeln ihre leere Miene; ihr Mund bebte, als würde sie leichte Schmerzen verspüren, und ein fast unartikulierter Laut der Verneinung kam aus ihrem Mund: »Nnnnnnnnn…«
Etwas von dem Haar, das sie sich abgeschnitten hatte, lag wie ein Stück goldener Draht auf ihrem Schenkel; das meiste war in den Bach gefallen und fortgetragen worden. Susan zog an Rolands Hand, wollte den scharfkantigen Stein wieder zu ihrem Haar führen, wollte den verrückten Haarschnitt fortsetzen. Die beiden rangen miteinander wie Kontrahenten beim Armdrücken an einem Bartresen. Und Susan siegte. Er war zwar sonst stärker als sie, aber nicht stärker als der Zauberbann, der sie nun gefangen hielt. Stück für Stück bewegte sich das weiße Dreieck des Quarzes zu ihrem Haar zurück. Der erschreckende Laut – Nnnnnnnnnn – kam wieder aus ihrem Mund.
»Susan! Aufhören! Wach auf!«
»Nnnnnnnn…«
Ihr bloßer Arm bebte sichtlich in der Luft, die Muskeln wölbten sich wie feste kleine Steine. Und das Stück Quarz näherte sich immer mehr ihrem Haar, ihrer Wange, ihrer Augenhöhle.
Ohne nachzudenken – so handelte er stets am erfolgreichsten – hielt Roland sein Gesicht dicht an ihres, wobei er der Faust, die den Stein hielt, noch einmal eine Handbreit nachgeben musste. Er legte die Lippen an ihre Ohrmuschel und schnalzte mit der Zunge am Gaumen. Schnalzte mit seitlich geöffnetem Mund, um genau zu sein.
Susan zuckte vor dem Geräusch zurück, das ihr wie ein Speer durch den Kopf geschossen sein musste. Ihre Lider bebten hektisch, und der Druck auf Rolands Hand ließ etwas nach. Er nutzte die Gelegenheit und drehte ihr das Handgelenk herum.
»Au! Auuuu!«
Der Stein fiel ihr aus der offenen Hand und platschte ins Wasser. Susan sah ihn hellwach an; Tränen der Bestürzung schossen ihr in die Augen. Sie rieb sich das Handgelenk… das, dachte Roland, wahrscheinlich anschwellen würde.
»Du hast mir wehgetan, Roland! Warum hast dum…«
Ihre Stimme erstarb, und sie sah sich um. Nun drückte nicht nur ihr Gesicht, sondern ihre ganze Körperhaltung Bestürzung aus. Sie wollte sich mit den Händen bedecken, dann wurde ihr klar, dass sie immer noch allein waren, und sie ließ sie wieder sinken. Sie sah über die Schulter zu den Spuren – allesamt von bloßen Füßen –, die zum Ufer führten.
»Wie bin ich hierher gekommen?«, fragte sie. »Hat Er mich getragen, als ich eingeschlafen war? Und warum hat Er mir wehgetan? Ach, Roland, ich liebe Ihn – warum hat Er mir wehgetan?«
Er nahm die Haarlocke, die noch auf ihrem Oberschenkel lag, und zeigte sie ihr. »Du hast einen scharfkantigen Stein genommen. Du hast versucht, dir damit das Haar abzuschneiden, und du wolltest unter keinen Umständen damit aufhören. Ich habe dir wehgetan, weil ich Angst hatte. Ich bin nur froh, dass ich dir nicht das Handgelenk gebrochen habe… jedenfalls glaube ich nicht, dass ich es getan habe.«
Roland ergriff es, drehte es behutsam in beide Richtungen und horchte nach dem Knirschen kleiner Knochen.
Er hörte nichts, und das Handgelenk ließ sich frei drehen. Vor Susans verwirrten und fassungslosen Augen hob er es an die Lippen und küsste die Innenseite über dem zarten
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