Der Dunkle Turm 4 - Glas
zuerst zum Mund, weil er ihr einen Kuss zuwerfen wollte, aber das wäre Wahnsinn gewesen. Er hielt mit der Hand inne, bevor sie seine Lippen berühren konnte, und tippte stattdessen als kecken Gruß mit einem Finger an die Stirn.
Susan lächelte und erwiderte den Gruß. Niemand sah Cordelia, die in den Nieselregen hinausgegangen war, um nach ihren letzten Kürbissen und Scharfwurzeln zu sehen. Diese bewusste Lady stand reglos da, hatte eine sombrera fast bis zu den Augen in die Stirn gezogen und wurde halb von der ausgestopften Puppe verborgen, die das Kürbisbeet bewachte. Sie sah Roland und Cuthbert vorüberreiten (Cuthbert schenkte sie kaum einen Blick; ihre Aufmerksamkeit galt dem anderen). Von dem Jungen zu Pferde schaute sie zu Susan hinauf, die an ihrem Fenster saß und so unbeschwert summte wie ein Vogel im goldenen Käfig.
Ein scharfer Splitter des Argwohns bohrte sich tief in Cordelias Herz. Susans Sinneswandel – von abwechselnden Anfällen der Traurigkeit und ängstlicher Wut hin zu einer Art benommener, aber überwiegend fröhlicher Hinnahme ihres Schicksals – war so überaus plötzlich gekommen. Vielleicht war es ja gar keine Hinnahme?
»Du bist verrückt«, flüsterte sie bei sich, aber ihre Hand blieb fest am Griff der Machete, die sie hielt. Sie kniete sich im schlammigen Garten hin und schlug unvermittelt auf den Scharfwurz ein, wobei sie die Wurzeln selbst mit schnellen, genauen Bewegungen zur Hauswand warf. »Sie haben nichts miteinander. Das wüsste ich. Kinder in diesem Alter verfügen über ebenso wenig Diskretion wie… wie die Trunkenbolde im Traveller’s Rest.«
Aber wie sie gelächelt hatten! Wie sie einander zugelächelt hatten.
»Völlig normal das alles«, flüsterte sie und hackte und warf dabei. Sie schnitt eine Scharfwurzel entzwei und ruinierte sie damit, ohne es zu merken. Das Flüstern war eine Gewohnheit, mit der sie erst vor kurzem angefangen hatte, und zwar seit der Erntetag näher rückte und der Ärger mit der aufmüpfigen Tochter ihres Bruders immer schlimmer wurde. »Leute, die einander zulächeln, das ist alles.«
Dasselbe galt für den Gruß und Susans Winken als Antwort. Unten der stattliche Kavalier, der die hübsche Maid grüßte; oben die Maid selbst, die es genoss, von jemandem wie ihm bewundert zu werden. Ein junger Mensch nahm den andern wahr. Und doch…
Der Ausdruck in seinen Augen… und der Ausdruck in ihren.
Natürlich war das Unsinn. Aber…
Aber du hast da noch etwas gesehen.
Ja, vielleicht. Einen kurzen Moment hatte es ausgesehen, als wollte der junge Mann Susan einen Kuss zuwerfen… dann schien er sich aber im letzten Augenblick besonnen zu haben und hatte stattdessen die Hand nur zum Gruß gehoben.
Selbst wenn du das gesehen hast, hat es aber nichts zu sagen. Junge Kavaliere sind nun einmal keck, besonders wenn sie der Obhut ihrer Väter entronnen sind. Diese drei aus den Inneren haben immerhin eine einschlägige Vorgeschichte, wie du wohl weißt.
Das alles mochte stimmen, aber es reichte nicht aus, um diesen kalten Splitter aus ihrem Herzen zu entfernen.
5
Es war dieser Jonas, der die Tür öffnete, nachdem Roland geklopft hatte, und die beiden Jungen in das Büro des Sheriffs ließ. Er trug den Stern eines Hilfssheriffs am Hemd und sah sie mit ausdruckslosen Augen an. »Jungs«, sagte er. »Kommt rein ins Trockene.«
Er wich zurück und gewährte ihnen Einlass. Sein Hinken war ausgeprägter, als Roland es zuvor je aufgefallen war; er vermutete, dass das feuchte Wetter der Grund dafür war.
Roland und Cuthbert traten ein. In einer der Ecken stand ein Gasofen – der zweifellos durch »die Fackel« bei Citgo gefüllt wurde –, und in dem Raum, wo es bei ihrem ersten Besuch so angenehm kühl gewesen war, herrschte nun eine übertriebene Hitze. In den drei Zellen saßen fünf jämmerlich anzusehende Trunkenbolde, je zwei Männer links und rechts und eine Frau allein in der mittleren Zelle, wo sie mit weit gespreizten Beinen dasaß, sodass man ihre rote Unterwäsche sehen konnte. Roland befürchtete, wenn sie den Finger noch tiefer in die Nase steckte, würde sie ihn nie wieder herausbekommen. Clay Reynolds lehnte am schwarzen Brett und reinigte sich mit einem Grashalm die Zähne. Am Rollpult saß Hilfssheriff Hollis, strich sich übers Kinn und betrachtete stirnrunzelnd das Spielbrett, das dort aufgestellt worden war. Es überraschte Roland kein bisschen, dass er und Bert eine Partie Kastell unterbrochen hatten.
»Da schau
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