Der Dunkle Turm 4 - Glas
Glaskugel und sah in deren Tiefen. Sie hatte sich die Zeit genommen, Ermots Kopf mit groben Stichen schwarzen Zwirns wieder an den Körper zu nähen, und sich die verwesende Schlange seitdem um den Hals gelegt, während sie beobachtete und träumte, ohne allerdings den Gestank zu bemerken, der im Lauf der Zeit von dem Reptil ausging. Zweimal kam Musty näher und bat miauend um Futter, und zweimal trat Rhea den Störenfried weg, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Sie selbst magerte immer mehr ab, und ihre Augen sahen inzwischen wie die Höhlen der Schädel aus, die sie in einem Netz neben der Schlafzimmertür aufbewahrte. Gelegentlich döste sie mit der Kugel im Schoß und der stinkenden Schlange um den Hals ein, ließ den Kopf sinken und das spitze Kinn auf der Brust ruhen, während ihr Sabberfäden aus den Hautfalten um die Mundwinkel hingen, aber sie schlief nie richtig. Es gab zu viel zu sehen, viel zu viel zu sehen.
Und alles stand ihr uneingeschränkt zur Verfügung. Neuerdings musste sie nicht einmal mehr die Hände über dem Glas kreisen lassen, um seine rosa Nebel zu vertreiben. Alle Gemeinheiten der Baronie, alle kleinen (und nicht so kleinen) Grausamkeiten, alles Lügen und Betrügen wurde vor ihr ausgebreitet. Das meiste, was sie sah, war unbedeutend und nebensächlich – masturbierende Jungs, die ihre nackten Schwestern durch Gucklöcher beobachteten; Frauen, die die Taschen ihrer Männer nach Geld oder Tabak filzten; Sheb, der Klavierspieler, der die Sitzfläche des Stuhls ableckte, wo seine Lieblingshure eine Zeit lang gesessen hatte; ein Zimmermädchen auf Seafront, das in Kimba Rimers Kissenbezug spuckte, nachdem der Kanzler ihr einen Tritt gegeben hatte, weil sie ihm nicht schnell genug aus dem Weg gegangen war.
Das alles bestätigte ihr ihre Meinung über die Gesellschaft, der sie den Rücken gekehrt hatte. Manchmal lachte sie wild; manchmal redete sie mit den Leuten, die sie in der Glaskugel sah, als ob diese sie hören könnten. Am dritten Tag der Woche vor dem Erntefest ging sie nicht einmal mehr zum Abort, obwohl sie die Glaskugel mitnehmen konnte, und der saure Geruch von Urin ging von ihr aus.
Am vierten Tag wagte sich Musty nicht mehr in ihre Nähe.
Rhea träumte in der Kugel und verlor sich in ihren Träumen wie schon andere vor ihr; sie war so tief in die kleinen Freuden des Fern-Sehens versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie die rosa Kugel die runzligen Überreste ihrer Anima stahl. Hätte sie es gewusst, hätte sie es wahrscheinlich als fairen Tausch betrachtet. Sie sah alles, was die Menschen im Verborgenen trieben, und nur das interessierte sie, und dafür hätte sie ihre Lebenskraft sicherlich als angemessenen Preis betrachtet.
6
»Hier«, sagte der Junge, »lass mich ihn anzünden, die Götter sollen dich verfluchen.« Jonas hätte die Stimme erkannt; es war derselbe Junge, der neulich auf der Straßenseite gegenüber mit dem abgeschnittenen Hundeschwanz gewinkt und gerufen hatte: Wir sind Große Sargjäger, genau wie ihr!
Der Junge, mit dem dieses reizende Kerlchen gesprochen hatte, gab sich Mühe, das Stück Leber nicht loszulassen, das sie aus der Abdeckerei hinter dem Untermarkt gestohlen hatten. Der erste Junge packte ihn am Ohr und drehte es um. Der zweite Junge heulte auf und hielt sofort das Stück Leber von sich, wobei ihm dunkles Blut über seine schmutzigen Finger lief.
»Schon besser«, sagte der erste Junge und nahm es. »Du solltest lieber nicht vergessen, wer hier der capataz ist.«
Sie standen hinter einer Bäckerbude auf dem Untermarkt. In der Nähe lungerte, vom Geruch des frisch gebackenen Brots angelockt, ein hungriger Straßenköter mit einem blinden Auge herum. Er sah sie hungrig und voller Hoffnung an.
In dem rohen Fleisch war ein Schlitz. Die grüne Zündschnur eines Kanonenschlags lugte daraus hervor. Unter der Zündschnur war das Stück Leber aufgebläht wie der Bauch einer schwangeren Frau. Der erste Junge nahm ein Schwefelholz, steckte es sich zwischen die vorstehenden Vorderzähne und zündete es an.
»Das macht der nie!«, sagte ein dritter Junge in der Qual von Hoffnung und Vorfreude.
»So dünn wie der ist!«, sagte der erste Junge. »O doch, er wird. Ich wette mein Kartenspiel gegen deinen Pferdeschwanz.«
Der dritte Junge dachte nach und schüttelte den Kopf.
Der erste Junge grinste. »Bist ein kluger Junge, das bist du«, sagte er und zündete die Zündschnur des Kanonenschlags an. »He, Freundchen!«, rief er dem
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