Der Dunkle Turm 4 - Glas
Coral Thorins Huren (»Baumwollfeinsliebchen« nennen sich die feenhaften, wie zum Beispiel Gert Moggins, gern selbst) langweilen sich. Sie werden in dieser Woche kaum Freier haben.
Dies ist nicht Jahresende, wenn die Winterscheite brennen und in Mejis von einem Ende zum anderen in den Scheunen getanzt wird… aber doch auch wieder. Dies ist das wahre Ende des Jahres, Charyou-Baum, und alle, von Stanley Ruiz, der unter dem Wildfang hinter dem Tresen steht, bis zum niedersten von Fran Lengylls vaqueros draußen im Bösen Gras, wissen es. Eine Art Echo erfüllt die strahlende Atmosphäre, das Fernweh zehrt an einem, eine Einsamkeit im Herzen, die wie der Wind singt.
Aber diesmal herrscht noch etwas anderes vor: ein Gefühl, dass etwas, was niemand richtig aussprechen kann, nicht stimmt. Leute, die in ihrem Leben nie einen Albtraum hatten, werden in der Woche des fin de año schreiend aus solchen erwachen; Männer, die sich als friedfertig betrachten, werden sich nicht nur in Schlägereien hineinziehen lassen, sondern sie sogar selbst anzetteln; unzufriedene Jungen, die in anderen Jahren nur davon geträumt hätten, von zu Hause wegzulaufen, werden es dieses Jahr tatsächlich tun; es ist auch der Ausklang des Friedens. Denn hier, in der verschlafenen Außerwelt-Baronie Mejis, wird in Kürze der letzte große Konflikt von Mittwelt beginnen; hier wird das Blutvergießen seinen Anfang nehmen. In zwei Jahren, nicht mehr, wird die Welt, wie sie gewesen ist, hinweggefegt sein. Hier nimmt es seinen Anfang. In seinem Rosenfeld schreit der Dunkle Turm mit seiner Stimme der Bestie auf. Zeit ist ein Gesicht auf dem Wasser.
2
Coral Thorin kam gerade vom Hotel Bayview die Hauptstraße herunter, als sie auf einmal Sheemie erblickte, der Caprichoso in die entgegengesetzte Richtung führte. Der Junge sang »Careless Love« mit einer hohen und angenehmen Stimme. Er kam nur langsam voran; die Fässer auf Capis Rücken waren anderthalbmal so groß wie dasjenige, das er vor kurzer Zeit erst auf den Cöos befördert hatte.
Coral grüßte fröhlich ihren Jungen für alles. Sie hatte auch allen Grund zur Fröhlichkeit; Eldred Jonas hielt nichts von der fin-de-año -Abstinenz. Und für einen Mann mit einem schlimmen Bein konnte er außerordentlich erfinderisch sein.
»Sheemie!«, rief sie. »Wohin gehst du? Seafront?«
»Aye«, sagte Sheemie. »Ich hab das Graf, das sie verlangt haben. Alle Feste finden am Erntejahrmarkt statt, aye, tonnenweise. Tanz viel, werd viel heiß, trink viel Graf, um dich viel abzukühlen! Wie hübsch Ihr ausseht, Sai Thorin, die Wangen ganz rosi-rosa, das sind sie.«
»O herrje! Wie lieb von dir, das zu sagen, Sheemie!« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Geh jetzt, du Süßholzraspler – trödle nicht.«
»Neini-nein, ich geh schon fein.«
Coral blieb stehen und sah ihm lächelnd hinterher. Tanz viel, werd viel heiß, hatte Sheemie gesagt. Was das Tanzen betraf, hatte Coral keine Ahnung, aber sie war sich sicher, dass der diesjährige Erntetag durchaus heiß werden würde. Wirklich sehr heiß.
3
Miguel empfing Sheemie am Torbogen von Seafront, maß ihn mit dem geringschätzigen Blick, den er üblicherweise dem gemeinen Volk vorbehielt, und zog erst den Korken des einen Fasses heraus, dann den des anderen. Beim ersten schnupperte er nur an der Öffnung, beim zweiten steckte er den Daumen hinein und leckte ihn nachdenklich ab. Mit seinen hohlen, runzligen Wangen und dem saugenden, zahnlosen alten Mund sah er wie ein uralter bärtiger Säugling aus.
»Lecker, was?«, sagte Sheemie. »Lecker wie ein Schmecker, oder nicht, guter alter Miguel, der schon seit tausend Jahren hier ist?«
Miguel, der immer noch an seinem Daumen lutschte, sah Sheemie mit einem giftigen Blick an. »Andale. Andale, Simplon.«
Sheemie führte seinen Esel um das Haus herum zur Küche. Hier wehte der Wind vom Meer beißend und kalt. Er winkte den Frauen in der Küche zu, aber niemand winkte zurück; wahrscheinlich sahen sie ihn nicht einmal. Auf jedem der riesigen Herde stand ein dampfender Topf, und die Frauen – die ihre Arbeit in weiten, langärmligen Baumwollkittelschürzen verrichteten und die Haare in bunte Tücher gehüllt hatten – schritten dazwischen einher wie Phantome im Nebel.
Sheemie nahm das erste Fass von Capis Rücken, dann das andere. Grunzend trug er sie zu dem riesigen Eichenbottich an der Hintertür. Er klappte den Deckel des Bottichs hoch, beugte sich darüber und drehte den
Weitere Kostenlose Bücher