Der Dunkle Turm 4 - Glas
hastig zur Haupttür, obwohl er in seinem Leben nie damit gerechnet hätte, einmal dort einzutreten. Er legte die Hand auf den großen Eisenriegel, drehte sich noch einmal zu dem alten Mann um, der an der Wand schlief, öffnete die Tür und schlich auf Zehenspitzen hinein.
Er blieb kurz in dem beleuchteten Rechteck stehen, das durch die offene Tür hereinfiel, hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen und rechnete jeden Moment damit, dass ihn eine Hand im Nacken packen würde (den übellaunige Leute immer zu finden schienen, wie hoch man die Schultern auch zog); eine wütende Stimme würde folgen, die ihn fragte, was er hier zu suchen habe.
Die Eingangshalle lag still und verlassen da. An der Wand gegenüber zeigte ein Wandteppich vaqueros, die Pferde über die Schräge trieben; daran lehnte eine Gitarre mit einer gerissenen Saite. Sheemies Füße erzeugten Echos, so leicht er auch auftreten mochte. Er erschauerte. Das war jetzt ein Haus des Mordes, ein böses Haus. Wahrscheinlich gab es Gespenster.
Trotzdem, Susan war hier. Irgendwo.
Er ging durch die Doppeltür auf der gegenüberliegenden Seite der Eingangshalle und betrat den Empfangssaal. Unter der hohen Decke hallten seine Schritte jetzt noch lauter als zuvor. Längst verstorbene Bürgermeister schauten von den Wänden auf ihn herab; die meisten hatten gruselige Augen, die ihm zu folgen und ihn als Eindringling zu entlarven schienen. Er wusste, dass ihre Augen nur gemalt waren, aber trotzdem…
Einer machte ihm besonders zu schaffen: ein dicker Mann mit dichtem rotem Haar, dem Mund einer Dogge und einem gemeinen Funkeln in den Augen, so als wollte er fragen, was ein schwachsinniger Saloonjunge im Großen Saal im Haus des Bürgermeisters zu suchen habe.
»Hör auf, mich so anzusehen, du fetter alter Hurensohn«, flüsterte Sheemie und fühlte sich ein wenig besser. Zumindest im Augenblick.
Als Nächstes kam der Speisesaal, ebenfalls verlassen; die langen Tischplatten mitsamt ihren Böcken waren an die Wand geschoben worden. Auf einem standen die Überreste einer Mahlzeit – ein Teller kaltes Brathuhn mit Brotscheiben, ein halber Krug Bier. Als er diese Essensreste auf einem Tisch sah, der bei zahllosen Jahrmärkten und Festen Dutzenden Platz geboten hatte – der heute Dutzenden hätte Platz bieten müssen –, wurde Sheemie endgültig das enorme Ausmaß dessen, was geschehen war, bewusst. Und wie traurig es war. Alles in Hambry hatte sich verändert, und wahrscheinlich würde es nie wieder so sein wie früher.
Diese langwierigen Gedanken hinderten ihn nicht daran, die Reste von Brathuhn und Brot hinunterzuschlingen und alles mit dem Rest in dem Bierkrug hinunterzuspülen. Es war ein langer Tag ohne Essen gewesen.
Er rülpste, schlug beide Hände vor den Mund, warf über den schmutzigen Fingern rasche, schuldbewusste Blicke nach allen Seiten und ging weiter.
Die Tür am anderen Ende des Raums war eingeklinkt, aber nicht abgeschlossen. Sheemie öffnete sie und streckte den Kopf in den Flur, der durch die gesamte Länge des Bürgermeisterhauses verlief. Gaslampen beleuchteten den Weg, der so breit wie eine Allee war. Keine Menschenseele war zu sehen – jedenfalls im Augenblick –, aber er konnte flüsternde Stimmen aus anderen Zimmern hören, und möglicherweise von anderen Stockwerken. Er vermutete, dass das die Zimmermädchen und anderen Diener waren, die sich heute Nachmittag hier aufhalten mochten, aber ihm kamen die Stimmen trotzdem höchst gespenstisch vor. Vielleicht war eine ja die von Bürgermeister Thorin, der dicht vor ihm den Flur entlangschritt (wenn Sheemie ihn nur sehen könnte… aber er war froh, dass er es nicht konnte). Bürgermeister Thorin, der herumwanderte und sich wunderte, was bloß mit ihm geschehen war, was diese kalte, geleeartige Flüssigkeit sein mochte, die sein Nachthemd tränkte, wer…
Eine Hand packte Sheemie dicht über dem Ellbogen am Arm. Er hätte beinahe aufgeschrien.
»Nicht!«, flüsterte leise eine Frauenstimme. »Um deines Vaters willen!«
Sheemie schaffte es irgendwie, den Schrei zu unterdrücken. Er drehte sich um. Und da stand die Witwe des Bürgermeisters in Jeans und einem einfachen karierten Rancherhemd; sie hatte das Haar nach hinten gekämmt, ihr blasses Gesicht war gefasst, ihre Augen blitzten.
»S-S-Sai Thorin, ich… ich… ich…«
Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Jetzt wird sie die Wachposten rufen, wenn noch welche da sind, dachte er. In gewisser Weise würde es eine Erleichterung
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