Der Dunkle Turm 4 - Glas
sein.
»Bist du wegen dem Mädchen gekommen? Wegen der jungen Delgado?«
Der Kummer meinte es auf eine schreckliche Weise gut mit Olive – ihr Gesicht wirkte nicht mehr so plump wie sonst, sondern seltsam verjüngt. Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen unverwandt an und machte es ihm unmöglich zu lügen. Sheemie nickte.
»Gut. Ich kann deine Hilfe brauchen. Sie ist unten, in der Vorratskammer, und sie wird bewacht.«
Sheemie sperrte den Mund auf und konnte nicht glauben, was er da hörte.
»Denkst du, ich glaube, sie hatte irgendetwas mit Harts Ermordung zu tun?«, sagte Olive, als hätte Sheemie Einwände gegen ihren Plan vorgebracht. »Ich bin vielleicht dick und nicht mehr so schnell auf den Beinen, aber ich bin keine komplette Idiotin. Komm jetzt. Seafront ist im Augenblick kein guter Aufenthaltsort für Sai Delgado – zu viele Leute aus der Stadt wissen, wo sie ist.«
5
»Roland.«
Er wird diese Stimme den Rest seines Lebens in unruhigen Träumen hören, sich niemals richtig daran erinnern, was er geträumt hat, und nur wissen, dass er sich nach den Träumen irgendwie krank fühlt – unruhig umhergeht, in lieblosen Räumen Bilder gerade rückt, dem Ruf des Muezzin auf den Plätzen fremder Städte lauscht.
»Roland von Gilead.«
Diese Stimme, die er fast erkennt; eine Stimme, die seiner eigenen so sehr gleicht, dass ein Psychiater aus Eddies oder Susannahs oder Jakes Wann-und-Wo sagen würde, es ist seine Stimme, die Stimme seines Unterbewusstseins, aber Roland weiß es besser; Roland weiß, dass häufig die Stimmen, die am meisten Ähnlichkeit mit unserer eigenen haben, wenn sie in unseren Köpfen sprechen, die der schrecklichsten Fremden sind, der gefährlichsten Eindringlinge.
»Roland, Sohn des Steven.«
Die Kugel hat ihn zuerst nach Hambry und ins Haus des Bürgermeisters geführt, und er hätte gern weiter gesehen, was sich dort abspielt, aber dann führt sie ihn weg – ruft ihn mit dieser seltsam vertrauten Stimme weg, und er muss gehen. Er hat keine andere Wahl, weil er im Gegensatz zu Rhea oder Jonas nicht in die Kugel schaut und die Geschöpfe sieht, die lautlos darin sprechen; er ist innerhalb der Kugel, ein Teil ihres endlosen rosa Sturms.
»Roland, komm. Roland, sieh.«
Und so wirbelt der Sturm ihn zuerst hoch, und dann fort. Er fliegt über die Schräge, steigt durch Luftschichten, die zuerst warm und dann kalt sind, und er ist nicht allein in dem rosa Sturm, der ihn auf dem Pfad des Balkens nach Westen trägt. Sheb fliegt an ihm vorbei, den Hut auf dem Kopf zurückgeschoben; er singt »Hey Jude«, so laut er kann, während er mit seinen nikotingelben Fingern auf Tasten klimpert, die nicht da sind – Sheb scheint so gebannt von seiner Melodie zu sein, dass er gar nicht bemerkt, dass der Sturm sein Klavier fortgerissen hat.
»Roland, komm«
sagt die Stimme – die Stimme des Sturms, die Stimme der Glaskugel –, und Roland kommt. Der Wildfang fliegt an ihm vorbei, und in seinen Glasaugen pulsiert rosa Licht. Ein hagerer Mann in der Latzhose eines Farmers fliegt vorbei; sein rotes Haar weht hinter ihm. »Leben für dich und Leben für deine Saat«, sagt er – jedenfalls etwas in der Art –, und schon ist er fort. Als Nächstes kommt ein Stuhl aus Eisen, mit Rädern, der sich dreht wie eine irre Windmühle (für Roland sieht er wie ein Foltergerät aus), und der junge Revolvermann denkt Die Herrin der Schatten, ohne zu wissen, warum er es denkt oder was es bedeutet.
Nun trägt der rosa Sturm ihn über verdorrte Berge, dann über ein fruchtbares grünes Delta, wo ein breiter Fluss seine jochbogenförmigen Windungen wie eine Ader zieht und einen heiteren blauen Himmel spiegelt, der das helle Rot wilder Rosen annimmt, als der Sturm darüber hinwegzieht. Vor sich sieht Roland eine Säule der Dunkelheit, die immer näher kommt, und sein Herz bebt, aber dorthin trägt ihn der rosa Sturm, und dorthin muss er gehen.
Ich will hier raus, denkt er, aber er ist nicht dumm, er begreift die Wahrheit: Vielleicht kommt er nie wieder raus. Das Glas des Zauberers hat ihn verschluckt. Möglicherweise wird er für immer in diesem stürmischen, getrübten Auge bleiben.
Ich werde mir den Weg hinaus freischießen, wenn es sein muss, denkt er, aber nein – er hat keine Waffen. Er ist nackt in dem Sturm und rast mit bloßem Hintern auf die ansteckende blau-schwarze Infektion zu, die die gesamte Landschaft unter sich begraben hat.
Und doch hört er Gesang.
Schwach, aber wunderschön –
Weitere Kostenlose Bücher