Der Dunkle Turm 4 - Glas
und riss sie auf; krallte nach seinen Augen und zog sie aus den Höhlen. Es zog Hendricks in die Tiefe, aber vorher sah Latigo noch den freigelegten Kieferknochen des Mannes, einen blutigen Kolben, der die Zähne in dem kreischenden Mund antrieb.
Die anderen Männer sahen es auch und versuchten sofort, vor der grünen Falle zurückzuweichen. Die, denen es gelang, wurden von den nachrückenden Männern überrollt, von denen manche unvorstellbarerweise immer noch johlten oder aus vollem Halse Kriegsrufe ausstießen. Noch mehr Pferde und Reiter wurden in das grüne Flimmern getrieben, das sie gierig aufnahm. Latigo, der fassungslos und blutend wie inmitten einer Stampede stand (und genau das tat er auch), sah den Soldaten, dem er seine Waffe gegeben hatte. Dieser Bursche, der Latigos Befehl befolgt und einen seiner compadres erschossen hatte, um die anderen aufzuwecken, warf sich heulend aus dem Sattel und kroch von der grünen Masse weg, während sein Pferd weiter hineinritt. Er versuchte, auf die Beine zu kommen, sah auf einmal zwei Reiter vor sich und schlug die Hände vors Gesicht. Gleich darauf wurde er niedergeritten.
Die Schreie der Verwundeten und Sterbenden hallten im rauchenden Canyon, aber Latigo hörte sie kaum. Am deutlichsten hörte er das Summen, ein Geräusch, das fast eine Stimme war. Die ihn aufforderte hineinzuspringen. Hier ein Ende zu machen. Und warum auch nicht? Es war vorbei, oder? Aus und vorbei.
Stattdessen kämpfte er sich aber mühsam in die entgegengesetzte Richtung und konnte nun etwas Boden gutmachen; der Strom der Reiter, die in den Canyon vorstießen, ließ nach. Manchen der Reiter, die noch fünfzig oder sechzig Schritte von dem Knick entfernt waren, war es sogar gelungen, ihre Pferde herumzureißen. Aber die sahen im zunehmenden Rauch geisterhaft und verwirrt aus.
Diese hinterlistigen Dreckskerle haben das Gestrüpp hinter uns in Brand gesteckt. Götter des Himmels, Götter der Erde, ich glaube, wir sind hier drinnen gefangen.
Er konnte keine Befehle geben – jedes Mal, wenn er Luft holte, hustete er sie wortlos wieder aus –, aber er konnte einen vorbeistürmenden Reiter packen, der nicht älter als siebzehn zu sein schien, und aus dem Sattel reißen. Der Junge fiel kopfüber hinunter und schlug sich die Stirn an einem spitzen Felsbrocken auf. Latigo saß bereits im Sattel, als die Füße des Jungen noch nicht zu zucken aufgehört hatten.
Er riss das Pferd herum und galoppierte zum Eingang des Canyons zurück, war aber noch keine zwanzig Schritt weit gekommen, als sich der Rauch auf einmal zu einer erstickenden weißen Wolke verdichtete. Der Wind wehte sie in seine Richtung. Am anderen Ende, zur Wüste hin, konnte Latigo gerade noch das orangerote Leuchten des brennenden Gestrüpps erkennen.
Er riss sein neues Pferd in die Richtung herum, aus der er gekommen war. Andere Pferde ragten im Rauch auf. Latigo stieß mit einem zusammen und wurde zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten abgeworfen. Er landete auf den Knien, rappelte sich mit tränenden Augen auf und stolperte hustend und würgend mit dem Wind im Rücken vorwärts.
Hinter dem Knick des Canyons war es etwas besser, aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Der Rand der Schwachstelle war ein Gewirr zuckender Pferde, viele mit gebrochenen Beinen, und kriechender, schreiender Männer. Latigo sah mehrere Hüte auf der grünlichen Oberfläche des heulenden Organismus treiben, der den hinteren Teil des Canyons ausfüllte; er sah Stiefel; er sah Armreife; er sah Halstücher; er sah das verbeulte Instrument des Hornisten, an dem noch die ausgefranste Schnur hing.
Komm rein, forderte das grüne Flimmern ihn auf, und nun fand Latigo das Summen seltsam anziehend… fast innig. Komm und besuch mich, setz dich nieder, sei ruhig, sei friedlich, sei eins mit dir.
Latigo hob seine Waffe, um darauf zu schießen. Er bezweifelte, dass man es töten konnte, aber er würde sich trotzdem an das Angesicht seines Vaters erinnern und schießend untergehen.
Aber dazu kam es nicht. Die Waffe fiel ihm aus den schlaffen Fingern, und er ging weiter – andere ringsum folgten seinem Beispiel – in die Schwachstelle hinein. Das Summen schwoll immer weiter an und erfüllte seine Ohren, bis er nichts anderes mehr hören konnte.
Überhaupt nichts anderes.
22
Roland und seine Freunde sahen alles vom Einschnitt in der Felswand aus, wo sie etwa sieben Meter unter dem oberen Rand des Canyons in einer auseinander gezogenen Linie
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