Der Dunkle Turm 6 - Susannah
hatte nicht den Eindruck, als hätte irgendjemand sich bemüht, die Abfälle fachgerecht zu entsorgen. Dazwischen gab es mehrere Pyramiden aus leeren Bierdosen, die fast groß genug waren, um als für Archäologen interessante Kökkenmöddinger zu gelten. Nichts schöner, als sich nach einem anstrengenden Tag im Laden auf der Veranda hinter dem Haus zu entspannen, dachte Eddie.
Roland zeigte mit dem Revolverlauf auf eine Zapfsäule, die älter und rostiger als die vor dem Laden war. Beschriftet war sie mit einem einzigen Wort. »Diesel«, sagte Roland. »Das heißt Brennstoff. Oder etwa nicht?«
»Yeah«, sagte Eddie. »Chip, funktioniert die Dieselsäule noch?«
»Klar, klar«, sagte Chip mit desinteressiert wirkender Stimme. »Manche von den Jungs tanken hier hinten.«
»Ich kann sie bedienen, Mister«, sagte Flanellhemd. »Überlassen Sie das lieber mir – sie hat ihre Mucken. Können Sie und Ihr Kumpel mir Feuerschutz geben?«
»Ja«, sagte Roland. »Und lasst es dort reinlaufen.« Er wies mit dem Daumen auf den Lagerraum.
»He, nein!«, sagte Chip erschrocken.
Wie lange hatte das alles gedauert? Eddie hätte es nicht sagen können, nicht mit Bestimmtheit. Bewusst war ihm nur eine Klarheit, die er erst einmal im Leben empfunden hatte: auf der Fahrt mit Blaine dem Mono. Mit ihrer Brillanz überwältigte sie alles, sogar die Schmerzen in seinem rechten Bein, dessen Schienbein durch den Schuss angeknackst sein mochte oder auch nicht. Er war sich bewusst, wie irre es hier hinten roch – verwestes Fleisch und verfaulte Lebensmittel, der Hefegeruch von tausend leeren Bierdosen, weitere von gleichgültiger Trägheit herrührende Gerüche… und der köstlich süße Duft der Tannenwälder, die ans Gelände dieser schmuddeligen kleinen Gemischtwarenhandlung anstießen. Er konnte das Brummen eines Flugzeugs in irgendeinem fernen Himmelssektor hören. Er wusste, dass er Mr. Flanellhemd irgendwie mochte, weil Mr. Flanellhemd hier war, zu ihnen gehörte, für ein paar Minuten durch die stärksten Bande, die es gab, mit Roland und Eddie verbunden war. Aber die Zeit? Nein, für die hatte er kein richtiges Gefühl. Aber seit Roland und er den Rückzug angetreten hatten, konnten nicht viel mehr als anderthalb Minuten vergangen sein, sonst wären sie – verunglückter Langholzwagen hin oder her – bestimmt längst überwältigt worden.
Roland zeigte nach links, dann wandte er sich selbst nach rechts. Eddie und er standen ungefähr drei Schritte voneinander entfernt Rücken an Rücken und mit erhobenen Revolvern auf der Ladebucht, als wollten sie dort ein Duell austragen. Mr. Flanellhemd hüpfte munter wie eine Grille von der Rampe und ergriff die verchromte Kurbel an der Seite der Zapfsäule. Er begann eifrig zu kurbeln. Die Ziffern in den kleinen Fenstern liefen rückwärts, aber anstatt in Nullstellung zurückzuspringen, blieben sie bei 0019 stehen. Mr. Flanellhemd versuchte es noch einmal, aber die Kurbel ließ sich nicht mehr bewegen. Er zuckte die Achseln und riss die Zapfpistole aus ihrer rostigen Halterung.
»John, nein!«, rief Chip. Er stand immer noch unter der Tür seines Lagerraums und hob abwehrend die Hände, von denen eine sauber und die andere bis weit übers Handgelenk blutig war.
»Aus dem Weg, Chip, sonst kriegst du…«
Zwei Männer kamen auf Eddies Seite um die Ecke des East Stoneham General Store geflitzt. Beide trugen Jeans und Flanellhemden, aber im Gegensatz zu Johns Hemd sahen ihre ladenneu aus, hatten noch Bügelfalten in den Ärmeln. Eigens für diesen Anlass gekauft, daran zweifelte Eddie nicht. Und einen der beiden Schlägertypen erkannte Eddie sofort; er hatte ihn zuletzt im Manhattaner Restaurant für geistige Nahrung, Calvin Towers Buchhandlung, gesehen. Eddie hatte auch diesen Kerl schon einmal erschossen. Heute in zehn Jahren, wenn man das glauben konnte. In Balazars Schuppen Zum Schiefen Turm – und mit derselben Waffe, die er jetzt in der Hand hielt. Ihm fiel ein Bruchstück aus einem alten Bob-Dylan-Song ein, irgendwas von dem Preis, den man dafür bezahlen musste, damit man nicht alles zweimal erleben musste.
»He, Big Nose!«, rief Eddie laut (wie er es jedes Mal zu tun schien, wenn er diesem speziellen Dreckskerl begegnete). »Wie geht’s denn so, Kumpel?« Tatsächlich schien es George Biondi nicht gerade gut zu gehen. Nicht mal seine Mutter hätte ihn selbst an seinem besten Tag für mehr als präsentabel gehalten (allein dieser gewaltige Zinken), und momentan war sein
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