Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
und das werden wir tun. Wenn wir wieder fruchtbares Land erreichen, werden wir auch Tiere finden, um sie zu erlegen, selbst wenn schon Schnee liegen sollte. Und darauf zähle ich. Nicht weil wir bis dahin Hunger auf frisches Fleisch haben werden, obwohl das zu erwarten ist, sondern weil wir die Felle brauchen. Ich hoffe, dass wir sie nicht verzweifelt dringend brauchen werden, dass die Sache nicht so knapp wird, aber …«
»Aber du fürchtest, dass es so sein wird.«
»Ja«, sagte er, »leider. Über längere Zeit hinweg ist im Leben kaum etwas so entmutigend wie anhaltende Kälte – vielleicht nicht streng genug, um zu töten, aber ständig da, um einem Stück für Stück Energie und Willenskraft und Körperfett zu rauben. Du wirst schon sehen.«
Das tat sie.
5
Im Leben ist kaum etwas so entmutigend wie anhaltende Kälte.
Unter Tags war es nicht so schlimm. Dann waren sie zumindest unterwegs, betätigten sich körperlich und hielten ihren Kreislauf in Schwung. Aber auch schon tagsüber begann Susannah die freien Flächen zu fürchten, zu denen sie manchmal kamen, die Orte, wo der Wind über meilenweite vegetationslose Geröllfelder zwischen Kegelstümpfen oder Tafelbergen heulte. Dergleichen Formationen ragten wie die roten Finger sonst gänzlich begrabener Steingiganten in den gleich bleibend blauen Himmel auf. Der Wind schien immer schneidender zu werden, während sie sich unter milchigen Wolkenschleiern, die dem Pfad des Balkens folgten, mühsam weiterschleppten. Susannah hob ihre aufgesprungenen Hände, um das Gesicht vor dem Wind zu schützen. Sie konnte es nicht ausstehen, wie ihre Finger fast ganz gefühllos wurden und sich in betäubte Extremitäten verwandelten, in denen es unter der Haut kribbelte. Ihre Augen füllten sich mit Wasser, und dann liefen ihr Ströme von Tränen übers Gesicht. Diese Tränenspuren gefroren nie; so streng war die Kälte nicht. Sie war nur streng genug, um ihr Leben in langsam eskalierendes Elend zu verwandeln. Für welche Bagatelle hätte sie an diesen unangenehmen Tagen, in diesen schrecklichen Nächten ihre unsterbliche Seele verkauft? Manchmal glaubte sie, ein einziger Pullover hätte als Kaufpreis genügt; ein andermal sagte sie sich: Nein, Schätzchen, dafür besitzt du auch jetzt noch zu viel Selbstachtung. Würdest du für einen einzigen Pullover eine Ewigkeit in der Hölle – oder vielleicht im Flitzerdunkel – verbringen wollen? Bestimmt nicht!
Nun, vielleicht nicht. Wenn der Teufel, der sie in Versuchung führte, beispielsweise ein Paar Ohrenwärmer drauflegen würde …
Und dabei wäre eigentlich so wenig erforderlich gewesen, um es behaglich zu haben. Daran musste sie ständig denken. Sie hatten Verpflegung, und sie hatten auch Wasser, weil sie in Abständen von fünfundzwanzig Kilometern an Pumpen vorbeikamen, die noch arbeiteten und aus tiefen Gesteinsschichten unter dem Ödland große Mengen von kaltem, nach Mineralstoffen schmeckendem Wasser förderten.
Ödland. Sie hatte Stunden und Tage, letztlich sogar Wochen Zeit, über diesen Begriff nachzudenken. Was machte es so unwirtlich? Vergiftetes Wasser? Das hiesige Wasser war nicht süß, durchaus nicht, aber es war auch nicht ungenießbar. Nahrungsmangel? Sie hatten Verpflegung, obwohl sie vermutete, dass die Nahrungsfrage später ein Problem werden könnte, wenn sie keine neuen Nahrungsquellen auftun konnten. Unterdessen hatte sie das ewige Büchsenfleisch gewaltig satt, von Rosinen zum Frühstück und Rosinen, wenn man eine Nachspeise wollte, ganz zu schweigen. Aber das Zeug war Nahrung. Körpertreibstoff. Was machte das Ödland so unwirtlich, wenn man Nahrung und Wasser hatte? Zu beobachten, wie der Himmel im Westen erst golden, dann rostbraun wurde; zu verfolgen, wie er im Osten erst purpurrot, dann sternenfunkelnd schwarz wurde. Sie beobachtete diese Übergänge vom Tag zur Nacht mit zunehmendem Grauen: mit dem Gedanken an eine weitere endlos lange Nacht, in der sie sich zu dritt zusammendrängten, während der Wind sich heulend durch die Felsen wand und die Sterne mitleidlos herabschienen. Endlose Stunden in einer kalten Hölle, während einem die Finger kribbelten und man dachte: Wenn ich nur einen Pullover und ein Paar Handschuhe hätte, dann hätte ich es behaglich. Mehr brauchte es nicht, nur einen Pullover und ein Paar Handschuhe. Weil es nämlich eigentlich gar nicht so kalt ist.
Wie kalt wurde es nach Sonnenuntergang denn tatsächlich? Nie unter null Grad, das wusste sie, weil
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