Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
Susannah. Pass lieber auf, Roland, sonst tust du dir noch was. Lachst dir einen Bruch oder irgendwas.
Denk darüber nach, hatte ihr unbekannter Korrespondent ihr geraten, und sie bemühte sich. Hatten die Wörter Odd und Lane ohne die Änderung etwas an sich, was jemand sie nicht sehen lassen wollte? Wenn dem so war, brauchte dieser Jemand sich keine Sorgen zu machen, sie jedenfalls sah es nicht. Sie wünschte sich, Eddie wäre jetzt hier. Eddie verstand sich auf alle möglichen verrückten Sachen: Witze und Rätsel und … und …
Ihr stockte der Atem. Auf ihrem Gesicht – und auf dem Gesicht ihres Zwillings im Spiegel – bildete sich ein Ausdruck staunenden Begreifens. Sie hatte keinen Bleistift und war schrecklich untalentiert für die spielerischen Umstellungen, die erforderlich waren, um …
Auf dem Hocker balancierend, beugte Susannah sich übers Waschbecken und hauchte den Spiegel an, damit das Glas beschlug. Dann schrieb sie in Druckbuchstaben ODD LANE hinein. Betrachtete die beiden Wörter mit wachsendem Verständnis und zunehmender Verzweiflung. Im Wohnzimmer steigerte sich Rolands Lache nach wie vor, und nun erkannte sie, was sie dreißig kostbare Sekunden früher hätte erkennen sollen: Dieses Lachen war nicht fröhlich. Es war rau und außer Kontrolle, das Lachen eines Mannes, der nach Atem rang. Roland lachte, wie die Folken lachten, wenn eine Komödie zur Tragödie wurde. Wie die Folken in der Hölle lachten.
Sie benutzte ihre Fingerspitze, um unter ODD LANE das Wort DANDELO zu schreiben – das Anagramm, das Eddie vermutlich sofort gesehen hätte, jedenfalls gleich nachdem er gemerkt hätte, dass Apostroph und S nur hinzugefügt worden waren, um sie zu täuschen.
Im Raum nebenan wurde das Lachen tiefer und veränderte sich, wurde zu einem Geräusch, das nicht mehr amüsant, sondern bedrohlich klang. Oy kläffte wie verrückt, und Roland …
Roland keuchte, als würde er ersticken.
Kapitel VI
P ATRICK D ANVILLE
1
Susannah trug ihren Revolver nicht bei sich. Als sie nach dem Abendessen ins Wohnzimmer zurückgekehrt waren, hatte Joe darauf bestanden, dass sie den La-Z-Boy-Liegesessel bekam, und sie hatte den Revolver auf die Zeitschriften auf dem Beistelltisch gelegt, nachdem sie die Trommel gedreht und die Patronen herausgenommen hatte. Die Patronen hatte sie in der Tasche.
Sie riss die Badezimmertür auf und hastete ins Wohnzimmer zurück. Roland, dessen Gesicht grausig purpurrot verfärbt war, lag zwischen Couch und Fernseher auf dem Fußboden. Er krallte mit beiden Händen nach seinem geschwollenen Hals, lachte aber noch immer. Ihr Gastgeber stand über ihm, und Susannah fiel als Erstes auf, dass sein Haar – dieses babyfeine, schulterlange weiße Haar – jetzt fast schwarz war. Auch die Falten um Mund und Augen waren verschwunden. Joe Collins sah nicht mehr nur zehn Jahre, sondern zwanzig bis dreißig Jahre jünger aus.
Dieser Hundesohn.
Dieser Hundesohn von einem Vampir.
Oy sprang ihn an und verbiss sich dicht über dem Knie in Joes linkes Bein. »Fünfunzwanzich, vierunsechzich, neunzehn. Wer bietet mehr!«, rief Joe fröhlich und schlenkerte dabei das Bein – jetzt so gelenkig wie Fred Astaire. Oy flog durch die Luft, knallte gegen die Wand und riss im Fallen eine Plakette mit der Aufschrift GOTT SEGNE UNSER HEIM herunter. Joe wandte sich wieder Roland zu.
»Wenn du mich fragst«, sagte er, »brauchen Frauen immer einen Grund, um Sex zu wollen.« Joe stellte einen Fuß auf Rolands Brust – wie ein Großwildjäger bei seiner Trophäe, dachte Susannah. »Männer dagegen brauchen bloß eine Gelegenheit! Bing!« Er ließ die Augen hervortreten. »Das Dumme an Sex ist, dass Gott den Männern ein Gehirn und einen Pimmel, aber nur so viel Blut gibt, um entweder das eine oder das andere zu betrei …«
Er bekam gar nicht mit, wie Susannah zu dem La-Z-Boy hoppelte und sich hinaufzog, um groß genug zu sein; er war zu sehr auf das, was er tat, konzentriert. Susannah verschränkte beide Hände zu einer einzigen Faust, hob sie bis auf Höhe ihrer rechten Schulter und schlug dann mit voller Kraft seitlich zu. Ihre Doppelfaust traf Joes Schläfe mit solcher Gewalt, dass er fortgeschleudert wurde. Sie hatte jedoch harte Knochen getroffen, weshalb die Schmerzen in ihren Händen fast unerträglich waren.
Joe taumelte, schwenkte die Arme, um das Gleichgewicht zu bewahren, und sah sich nach ihr um. Die hochgezogene Oberlippe ließ seine Zähne sehen – völlig gewöhnliche Zähne, aber
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