Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
saßen Männer mit seltsamer Kleidung. Er vermutete, daß es Anzüge waren, aber er hatte dergleichen vorher noch niemals gesehen. Auch die Sachen um ihre Hälse konnten Binder oder Krawatten sein, aber auch solche hatte er noch nie gesehen. Und soweit er das erkennen konnte, war keiner von ihnen bewaffnet; er sah weder Dolche noch Schwerter, geschweige denn eine Feuerwaffe. Was waren das für vertrauensselige Schafe? Einige lasen mit winzigen Worten bedecktes Papier – die Worte hier und da von Bildern unterbrochen –, während andere mit Stiften, wie sie der Revolvermann noch nie gesehen hatte, auf Papier schrieben. Aber die Stifte bedeuteten ihm wenig. Es war das Papier. Er lebte in einer Welt, in der Gold und Papier in etwa denselben Wert hatten. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nicht soviel Papier gesehen. In diesem Augenblick riß ein Mann ein gelbes Blatt von dem Block auf seinem Schoß ab und knüllte es zu einem Ball zusammen, obwohl er erst die obere Hälfte der einen Seite und die andere noch überhaupt nicht beschrieben hatte. Dem Revolvermann war nicht so übel, daß er nicht eine Regung des Entsetzens angesichts solch unnatürlicher Verschwendung verspürt hätte.
Hinter den Männern befand sich eine gekrümmte weiße Wand und eine Fensterreihe. Einige waren von einer Art weißer Schiebeläden versperrt, aber hinter anderen konnte er blauen Himmel erkennen.
Jetzt näherte sich eine Frau dem Durchgang, eine Frau, die eine Art Uniform trug, aber keine, wie Roland sie je gesehen hatte. Sie war hellrot, und ein Teil davon bestand aus einer Hose. Er konnte die Stelle sehen, wo ihre Beine sich zum Schritt vereinigten. Das hatte er bei einer Frau, die nicht entkleidet war, noch niemals erblickt.
Sie kam der Tür so nahe, daß Roland glaubte, sie würde hindurchschreiten; er torkelte einen Schritt rückwärts und hatte Glück, daß er nicht fiel. Sie betrachtete ihn mit der einstudierten Höflichkeit einer Frau, die Dienerin und zugleich ihr eigener Herr ist. Das interessierte den Revolvermann nicht. Ihn interessierte, daß sich ihr Ausdruck nicht veränderte. Man erwartete nicht, daß eine Frau – oder überhaupt jemand – einen schmutzigen, schwankenden, erschöpften Mann so ansah, der überkreuzte Revolvergurte an den Hüften hatte, einen blutgetränkten Lappen um die rechte Hand und Jeans an, die aussahen, als wären sie mit einer Art von Säge bearbeitet worden.
»Hätten Sie gerne…«, fragte die Frau in Rot. Sie sagte noch mehr, aber der Revolvermann verstand nicht genau, was es bedeutete. Essen oder Trinken, dachte er. Dieser rote Stoff – Baumwolle war es nicht. Seide? Er sah ein wenig wie Seide aus, aber…
»Gin«, antwortete eine Stimme, und das verstand der Revolvermann. Plötzlich verstand er noch viel mehr.
Es war keine Tür.
Es waren Augen.
So verrückt das sein mochte, er sah einen Teil eines Gefährts, das durch den Himmel flog. Er sah durch die Augen eines anderen.
Wessen Augen?
Aber er wußte es. Er sah durch die Augen des Gefangenen.
ZWEITES KAPITEL
Eddie Dean
1
Wie um seine Vorstellung, so verrückt sie auch war, zu bestätigen, erhob sich das, was der Revolvermann durch die Tür sah, plötzlich und glitt seitwärts. Der Anblick machte kehrt (wieder das Gefühl des Schwindels, das Gefühl, auf einer Scheibe mit Rädern zu stehen, einer Scheibe, die Hände, welche er nicht sehen konnte, hierhin und dorthin bewegten), und dann schwebte der Korridor an den Rändern der Tür vorbei. Er kam an einem Ort vorbei, wo mehrere Frauen, alle in denselben roten Uniformen, beisammenstanden. Es war ein Ort von Gegenständen aus Stahl, und er hätte trotz seiner Schmerzen und der Erschöpfung den in Bewegung befindlichen Blick gerne zum Stillstand gebracht, damit er sehen konnte, was die Gegenstände aus Stahl waren – eine Art Maschinen. Eine sah einem Ofen ähnlich. Die Armeefrau, die er schon gesehen hatte, schenkte den Gin ein, den die Stimme verlangt hatte. Sie schenkte aus einer sehr kleinen Flasche ein. Sie war aus Glas. Das Gefäß, in das sie einschenkte, sah wie Glas aus, aber der Revolvermann glaubte nicht, daß es tatsächlich Glas war.
Was die Tür zeigte, hatte sich weiterbewegt, bevor er mehr sehen konnte. Es folgte eine weitere dieser schwindelerregenden Wendungen, dann stand er vor einer Metalltür. Ein erleuchtetes Schild befand sich in einem schmalen Kästchen. Dieses Wort konnte der Revolvermann lesen. FREI, stand da.
Der Blick glitt ein wenig abwärts.
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