Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
ist«, sagte sie.
»Vielleicht, wenn kein Tageslicht mehr da ist«, sagte Roland. »Vorerst wollen wir uns erst mal umgucken, was wir hier sonst noch so haben.«
»Roland?«, sagte Jake.
Der Revolvermann wandte sich zu ihm um. Das Gesicht des Jungen hatte etwas an sich, was Rolands eigenem fast immer einen sanfteren Ausdruck verlieh. Der Revolvermann sah nicht unbedingt zuvorkommender aus, wenn er Jake ansah, aber es schien seinen Zügen eine Eigenschaft zu verleihen, die sie sonst nicht besaßen. Susannah fand, dass Liebe daraus sprach. Vielleicht sprach der Blick auch von einer schwachen Hoffnung für die Zukunft.
»Was gibt’s, Jake?«
»Ich weiß, dass wir kämpfen werden …«
»›Nächste Woche zeigen wir Rückkehr an den O. K. Corral mit Van Heflin und Lee Van Cleef in den Hauptrollen‹«, murmelte Eddie, während er weiter in die Höhle hineinging. Dort stand ein größerer Gegenstand, der mit etwas abgedeckt war, was wie die Polsterdecke einer Möbelspedition aussah.
»… aber wann?«, fuhr Jake fort. »Glaubst du, dass es schon morgen so weit ist?«
»Vielleicht«, antwortete Roland. »Ich halte aber übermorgen für wahrscheinlicher.«
»Ich habe ein schreckliches Gefühl«, sagte Jake. »Es ist nicht richtig Angst …«
»Glaubst du, dass wir unterliegen werden, Schatz?«, fragte Susannah. Sie legte Jake eine Hand auf den Nacken und sah ihm ins Gesicht. Sie hatte sich angewöhnt, viel auf seine Gefühle zu geben. Manchmal fragte sie sich, wie vieles von dem, was er jetzt darstellte, mit der Kreatur zusammenhing, mit der er hatte fertig werden müssen, um hierher zu gelangen: das Ungeheuer in jener Villa in Dutch Hill. Das war kein Roboter, kein rostiges altes Spielzeug zum Aufziehen gewesen. Der Türsteher war ein echter Überlebender aus der Prim gewesen. »Du witterst eine Abreibung im Wind? Ist’s das?«
»Eher nicht«, sagte Jake. »Aber ich weiß nicht, was es ist. Mir ist erst einmal so zumute gewesen, und das war kurz bevor …«
»Kurz bevor was?«, fragte Susannah, aber bevor Jake antworten konnte, ging Eddie dazwischen. Roland war froh darüber. Kurz bevor ich gefallen bin. Das hatte Jake ergänzen wollen. Kurz bevor Roland mich hat fallen lassen.
»Heiliger Scheiß! Kommt mal her, Leute! Das müsst ihr euch unbedingt ansehen!«
Eddie hatte die Polsterdecke beiseite gezogen und ein motorisiertes Fahrzeug freigelegt, das wie eine Kreuzung aus einem ATV und einem riesigen Dreirad aussah. Es hatte überbreite Ballonreifen mit tiefem Geländeprofil. Alle Bedienungseinrichtungen waren am Lenker angeordnet. Und auf dem rudimentären Instrumentenbrett lehnte eine Spielkarte. Roland wusste, welche Karte das war, noch bevor Eddie sie zwischen zwei Fingern aufnahm und umdrehte. Das Blatt zeigte eine Frau, die mit einem Tuch über dem Kopf an einem Spinnrad saß: die Herrin der Schatten.
»Sieht so aus, als hätte unser Freund Ted dir eine Karre dagelassen, Schatz«, sagte Eddie.
Susannah war hastig herangekrochen. Jetzt warf sie die Arme nach oben. »Heb mich rauf! Heb mich rauf, Eddie!«
Das tat er, und als Susannah im Sattel saß – statt Zügeln aber die Lenkergriffe gepackt hielt –, schien das Fahrzeug wie für sie gemacht zu sein. Mit dem Daumen betätigte sie den roten Anlassknopf, worauf der Motor zum Leben erwachte und kaum hörbar vor sich hin lief. Elektrisch, nicht benzingetrieben, davon war Eddie überzeugt. Wie ein Golfkarren, aber bestimmt viel schneller.
Susannah wandte sich ihren Gefährten zu und lächelte strahlend. Sie tätschelte die dunkelbraune Verkleidung des Dreirads. »Ab sofort bin ich Missus Zentaur für euch! Nach so einem Ding habe ich mein Leben lang gesucht, ohne es überhaupt zu wissen.«
Niemand bemerkte den verzweifelten Ausdruck auf Rolands Gesicht. Damit niemand ihn sehen konnte, bückte er sich, um die Spielkarte aufzuheben, die Eddie hatte fallen lassen.
Ja, sie war es wirklich – die Herrin der Schatten. Unter ihrem Kopftuch schien sie verschmitzt zu lächeln und zu schluchzen, beides gleichzeitig. Als Roland diese Karte zuletzt gesehen hatte, hatte sie ein Mann, der sich manchmal Walter, manchmal aber auch Flagg nannte, in der Hand gehalten.
Du hast keine Ahnung, wie nahe du dem Turm jetzt bist, hatte er gesagt. Über deinem Kopf kreisen Welten.
Und jetzt erkannte er das Gefühl, das sich zwischen sie eingeschlichen hatte, als das, was es fast sicher war: nicht Sorge oder Erschöpfung, sondern Ka-Shume. Dieser mit Wehmut befrachtete
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