Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
wandernden Buchhalters statt eines wandernden Priesters, weist zahlreiche Parallelen zu der von Pere Donald Callahan auf. Die beiden könnten fast Zwillinge sein. Und der sechste Zuhörer – der eine in der stürmischen Nacht vor dem mit einer Wolldecke verhängten Höhleneingang – vernimmt sie mit wachsendem Mitgefühl und Verständnis. Warum auch nicht? Anders als in der Story des Peres spielt der Alkohol in Brautigans Erzählung zwar keine große Rolle, trotzdem ist es eine Geschichte von Sucht und Isolierung, die Geschichte eines Außenseiters.
4
Mit achtzehn Jahren wird Theodore Brautigan zum Studium in Harvard zugelassen, wo auch sein Onkel Tim studiert hat, und Onkel Tim – selbst kinderlos – ist gern bereit, für Teds Studium aufzukommen. Und soviel Timothy Atwood weiß, läuft die Sache völlig unkompliziert ab: Angebot ergeht, Angebot wird angenommen, Neffe brilliert auf allen wichtigen Gebieten, Neffe schließt Studium ab und bereitet sich darauf vor, ins Möbelgeschäft seines Onkels einzutreten, sobald er sich ein halbes Jahr im Nachkriegseuropa umgesehen hat.
Was Onkel Tim nicht weiß, ist jedoch, dass Ted vor Beginn seines Studiums in Harvard versucht, sich freiwillig für etwas zu melden, das bald als die American Expeditionary Force bekannt sein wird. »Junger Mann«, erklärt ihm der Musterungsarzt, »Sie haben verdammt laute Herzgeräusche und hören unterdurchschnittlich gut. Wollen Sie etwa behaupten, dass Sie hergekommen sind, ohne zu wissen, dass Ihnen das den roten Stempel einbringen würde? Dafür – Entschuldigung, wenn ich das so offen sage – sehen Sie nämlich zu intelligent aus.«
Und dann tut Ted Brautigan etwas, was er noch nie getan hat, etwas, was er sich niemals zu tun geschworen hat. Er fordert den Militärarzt auf, sich eine Zahl zu denken, nicht bloß zwischen eins und zehn, sondern zwischen eins und tausend. Um ihm den Gefallen zu tun (in Hartford regnet es, was bedeutet, dass im Rekrutierungsbüro nicht viel los ist), denkt der Doc sich die Zahl 748. Ted nennt sie ihm. Dann 419 … 89 … und 997. Als Ted ihn auffordert, an einen berühmten Menschen, lebend oder tot, zu denken, und dann Andrew Johnson – nicht Jackson, sondern Johnson – nennt, ist der Doc endgültig verblüfft. Er zieht einen weiteren Arzt, einen Freund, hinzu, und Ted beginnt den ganzen Zirkus von vorn … mit einer Variante. Er bittet den zweiten Doc, sich eine Zahl zwischen eins und einer Million zu denken, und sagt ihm dann auf den Kopf zu, dass er an siebenundachtzigtausendvierhundertsechzehn gedacht hat. Der zweite Arzt wirkt momentan überrascht – sogar sprachlos erstaunt –, dann tarnt er das mit einem breiten Scheißergrinsen. »Sorry, junger Mann«, sagt er, »Sie haben sich nur um knapp hundertdreißigtausend verschätzt.« Ted betrachtet ihn, ohne zu lächeln, ohne irgendwie bewusst auf dieses Scheißergrinsen zu reagieren, aber er ist erst achtzehn und noch jung genug, um von solcher ungeheuerlichen und scheinbar sinnlosen Verlogenheit platt zu sein. Unterdessen ist das Scheißergrinsen von Doc Nummer zwo von selbst verblasst. Er wendet sich an Doc Nummer eins und sagt: »Sieh dir seine Augen an, Sam – sieh dir an, was mit seinen Augen passiert.«
Der erste Arzt versucht, Teds Augen mit einem Augenspiegel zu untersuchen, aber Ted wischt ihn ungeduldig beiseite. Er hat Zugang zu Spiegeln und weiß, wie seine Pupillen sich manchmal weiten und wieder verengen, ist sich dieses Vorgangs selbst außer Reichweite eines Spiegels bewusst, weil sein Sehvermögen dann zu flimmern und zu stottern scheint, aber das interessiert ihn nicht, vor allem jetzt nicht. Im Moment interessiert ihn nur, dass Doc Nummer zwo ihn verscheißert, ohne dass er einen Grund dafür erkennen kann. »Schreiben Sie die Zahl diesmal auf«, fordert er ihn auf. »Schreiben Sie sie auf, damit Sie nicht betrügen können.«
Doc Nummer zwo plustert sich auf. Ted wiederholt seine Herausforderung. Doc Sam bietet ihm Papier und Bleistift an, und der zweite Arzt nimmt beides. Als er eben eine Zahl hinschreiben will, besinnt er sich anders, wirft den Bleistift auf Sanis Schreibtisch und sagt: »Das ist irgendein billiger Straßenkünstlertrick, Sam. Wenn du das nicht erkennst, musst du wirklich blind sein.« Und kaum hat er das gesagt, stolziert er auch schon davon.
Ted fordert Dr. Sam nun auf an einen Verwandten, irgendeinen Verwandten, zu denken, und sagt ihm im nächsten Augenblick, dass er an seinen Bruder
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